Dienstag, 25. Oktober 2016

The Walking Dead: Zu viel des Guten?

Knapp 24 Stunden nach dem Auftakt der 7. Staffel von „The Walking“ analysierte das Medienanalyse-Unternehmen „Canvs“ die emotionalen Reaktionen der Zuschauer auf die erste Episode „The Day Will Come When You Won't Be". Innerhalb kurzer Zeit hatten die Zuschauer ca. 1,7 Mio. Tweets generiert, in denen der brutale Auftakt der Zombie-Serie diskutiert wurde. Die Zahlen sprechen dafür, dass die quälend sadistischen Szenen nicht bei allen Fans der Serie gut angekommen sind. 

Insgesamt zwei Drittel der Twitter-Beiträge fielen negativ aus. Über 22% der Nutzer nannten die Show „crazy“, über 14% äußerten ihr Missfallen, 7% waren aufgebracht und empört. Der Rest empfand Trauer, Hass, nicht wenige mussten weinen, was keineswegs eine bei Canvs häufig verwendete Kategorie ist.
TWD Co-Executive Producer Greg Nicotero reagierte in einem Interview mit „The Hollywood Reporter“ nicht sonderlich überrascht. „If you kill a character and nobody cares, that means we haven't done something to connect our people to the characters. It's a tribute to every actor on our show that has perished“, kommentierte Nicotero die Ankündigung einiger Zuschauer, die Serie nicht länger sehen zu wollen.


Die Gründe liegen auf der Hand. „The Walking Dead“ hatte bereits in der Vergangenheit demonstriert, dass man die Tötung populärer Hauptfiguren als dramaturgische Waffe zu nutzen verstand: es war ein über die expliziten Splatter- und Gore-Effekte hinausgehendes Alleinstellungsmerkmal. Allerdings wich TWD diesmal nicht von
Robert Kirkmans Comic-Vorlage ab, sondern setzte seine Programmatik 1:1 um. In der postapokalyptischen Geschichte kann keine Figur sicher sein, den nächsten Tag zu überleben.



Selten war visueller Terror effektiver – und die Kritiken schlechter

In der Episode „The Day Will Come When You Won't Be“, für die Showrunner Scott M. Gimple höchstpersönlich das Script geschrieben hatte und Greg Nicotero Regie führte, geschah dann genau das, was die „Spoiling Dead Fans“ schon seit Längerem angekündigt hatten: der soziopathische Oberschurke Negan (Jeffrey Dean Morgan) erschlägt erst Abraham Ford (Michael Cudlitz) und danach Glenn Rhee (Steven Yeun) mit seinem Baseballschläger „Lucille“. Und er versucht Rick Grimes (Andrew Lincoln) dazu zu zwingen, den linken Arm seines Sohnes Carl (Chandler Riggs) abzuhacken.
An den Tod von Hauptfiguren oder von Sidekicks aus der zweiten Reihe hatte man sich mitsamt der ausgefallenen Todesarten bereits gewöhnt. Zudem waren Serien wie „Game of Thrones“ auf den Zug aufgesprungen. 2013 metzelten die Macher in der berüchtigten „The Red Wedding“-Episode einige beliebte Figuren nieder und beförderten sie zum Entsetzen der Fans ins Jenseits. Dies brachte den Machern einen Shitstorm ein, schadeten den Quoten aber nicht im Geringsten.


In der Nacht auf Montag sahen dann aber Millionen amerikanischer TWD-Fans ein sadistisches Spektakel – und mit dieser Episode hat die Serie die berüchtigte „Red Wedding“-Episode offenbar locker getoppt. Zumindest was das Ausmaß der Grausamkeiten betraf.
„Who ever wrote this episode is the most sadistic and disturbed person on the planet“, kommentierte ein Zuschauer die Show auf Twitter.


Am Montag danach meldete sich das konservative „Parents Television Council“ (PTC) und kritisierte die Serie scharf: "Last night’s season premiere of The Walking Dead was one of the most graphically violent shows we’ve ever seen on television, comparable to the most violent of programs found on premium cable networks." 

PTC-Präsident Tim Winter, der zugab, die kritisierte Episode überhaupt nicht gesehen zu haben, forderte eine stärkere Kontrolle der Kabelanbieter und sogar eine Erweiterung der Bewertungskategorien der TV Parental Guidelines. Diese repräsentieren ein mit der deutschen FSF (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen) vergleichbares Ratingsystem für TV-Contents.
Die kritisierte TWD-Episode hatte zwar die höchste Altersbeschränkung erhalten, nämlich TV-MA (This program is specifically designed to be viewed by adults and therefore may be unsuitable for children under 17), soll Winter zufolge aber durch eine schärfere Kategorie erweitert werden.


Obwohl Tim Winters Forderung nach einer größeren Kontrollmöglichkeiten etwas schwammig blieb, sollte man den Einfluss dieser Interessenvertretung auf die öffentliche Meinungsbildung nicht unterschätzen.
Auch die TV-Kritiker reagierten gemischt bis negativ. Kino.de stellte am Tag der deutschen Ausstrahlung fest: „Zeit für den Gnadenschuss“ und formulierte „10 Gründe, warum ihr euch Staffel 7 sparen könnt“ (was die Leser im Forum vor Wut toben ließ).

Matt Fowler von Imagine Games Network urteilte: „"It crossed a line, but not one of gore. Or death, even. Not necessarily. It basically broke the final shred of trust in the show to service characters over gimmickry." 

Zack Handlen („The A.V. TV Club“) vergab eine miserable Note – eine C-: „The show is so stupid that it thinks we're stupid, prays we're stupid; cross its fingers and hopes like hell that its legion of loyal, obsessive followers will rend their garments at the horrible death of a fan favorite, but still be back next week."

Und CNN’s Brian Lowry vernichtete die Episode mit der Feststellung: "Nevertheless, its most admirable qualities have increasingly been overshadowed by its more distasteful ones — not merely in demonstrating just how brutal humanity can be, but by toying with its audience."

Last but not least bescheinigte Kristi Turnquist von oregonlive.com den Machern pornografische Qualitäten: „But the most shocking reveal was just how low executive producer and showrunner Scott M. Gimple and "Walking Dead" comics creator Robert Kirkman are willing to go for the sake of sensationalism and torture porn -- that is, scenes of violence that are dwelled on far past the point of narrative necessity (…) Though Andrew Lincoln was outstanding, as always, in making us feel Rick's abject terror, the overwhelming message from the episode is how cynical the storytelling has become. Do the producers think the only way to raise the emotional stakes and set up the Season 7 story is by wallowing, and then wallowing again, in brutality?“


Selbstverständlich gab es auch positive Kritiken bis hin zum Votum „masterpiece“, aber die Wolken, die herausziehen, sind eher dunkel. In unterschiedlichen US-Foren wurde heftig diskutiert, aber ca. 80% der Zuschauer waren schockiert und angeekelt.
Tatsächlich war nicht etwa das letale Ausscheiden von zwei beliebten Darstellern schockierend, sondern die Strategie, die die Macher der Serie bereits in Season 6 wählten. Sie begannen die Zuschauer mit Cliffhangern und Teasern zu manipulieren und setzten dies nun uneingeschränkt fort. Glaubt man einem US-Blogger, so mussten die Zuschauer zwei lange Werbeblöcke überstehen, ehe sie überhaupt sehen konnten, wen Negan killte.


Diese Strategie begann in Season 6 bereits mit dem Fake-Tod von Glenn und der verschleppten Auflösung und setzte sich mit dem Mega-Cliffhanger beim Staffelfinale fort, das zwar den Schurken Negan präsentierte, aber die grausame Pointe über das Sommerloch hinaus in die nächste Staffel verschleppte.
Beim Staffelauftakt wurde dann erneut die Auflösung verschleppt. Erst nach ca. 12 Minuten wurde dann in Flashbacks das Massaker häppchenweise serviert. Und da man mit allen Darstellern die „Lucille“-Szene gedreht hatte, wurden die eigentlich nicht benötigten Materialien, in denen man sieht, wie alle anderen Mitglieder des Main Cast von Negan getötet werden, auch noch passend als Bildschnipsel verwurstet.
Verwursten bringt die Sache auf den Punkt, denn besonders der Tod Glenns wurde auf eine ekelerregende Weise zelebriert – selbst mit einem zu Matsch geprügeltem Schädel zuckte Glenn noch mit seinen Extremitäten. Insgesamt präsentierte die Episode einen menschenverachtender Zynismus. Dies kann möglicherweise das Ende der Serie einläuten. Für die Soziopathen unter den Zuschauern war es allerdings ein Festmahl. Egal, wohin der Zug fährt: Selten war visueller Terror effektiver.


Der ökonomische Faktor der Manipulation

Landauf, landab laufen die Fans nun in den Foren heiß. Es wird diskutiert, ob es die Richtigen getroffen hat und wie es sich anfühlt, trotz extremer Todesqualen der geliebten Frau noch eine letzte Botschaft mitzuteilen. Obwohl man dort nicht selten in Abgründe schaut, soll der Fokus auf etwas anderes gelenkt werden: All dies ist Teil eines gelenkten Prozesses, der von ökonomischen Interessen gesteuert wird.
Es muss nämlich Geld verdient werden. Während das Sommerloch nur bedingt durch das Spin-Off „Fear The Walking Dead“ gestopft werden konnte, leierten besonders die Webpräsenzen einiger deutscher Free-TV-Anbieter einen permanenten Hype an, der neben wilden Spekulationen fast permanent vor Spoilern warnte – und das in der Gewissheit, dass besonders diejenigen, die ständig über Spoiler klagen, die ersten sind, die sich auf derartigen Seiten herumtreiben. Natürlich, um danach im Forum ihren Unmut auszudrücken.


Hinzu kamen Clickbaiting-Strategien, mit denen die Fans geschickt bis an die Grenze der Absurdität soweit manipuliert wurden, dass sie wild auf Videos und sonstige Angebote klickten, obwohl sie dort statt des angekündigten Spoilers absolut nichts zu sehen bekamen.
Der mit Abstand bescheuertste Versuch, bei dem natürlich ständig Werbung aufpoppte, war ein Filmchen mit Spoiler-Warnung, der sich als Werbevideo für Motorräder entpuppte und mit TWD nur deshalb etwas zu tun hatte, weil Norman Reedus auf den Zweirädern zu sehen war.


Diese Nebenschauplätze sind nicht unmittelbar den Machern anzulasten. Aber AMC wird schon wissen, was die internationale Vermarktung verlangt. Sehen wir es einmal so: „The Walking Dead“ ist ein Medienprodukt, mit dem auf unterschiedliche Weise Kohle gemacht werden kann. Dabei ziehen alle an einem Strang. Und ich meine damit nicht die Kaffeetasse mit dem hübschen TWD-Motiv.
Auch Robert Kirkman ist kein Kind von Traurigkeit. Der außerordentlich begabte Erfinder der TWD-Comics hat sehr großen Einfluss auf die Entwicklung der TV-Serie und bastelt bereits an seinem eigenen kleinen Medien-Imperium, mit dem er nicht nur Marvel und DC an den Kragen will, sondern das längst mehr als ein Auge auf den TV- und Kinomarkt geworfen hat. Mit „Outcast“, einer brillant fotografierten Serie über Dämonen und Exorzisten, lieferte Kirkman erneut superbe Grausamkeiten ab, musste aber am Ende doch mit miesen Quoten leben.


Nun habe ich gegen Geldverdienen per se nichts einzuwenden, aber auch der gutgläubigste Fan sollte zumindest gelegentlich darüber nachdenken, ob er vielleicht Teil einer gigantischen Gelddruckmaschine ist. Auch das wäre auszuhalten, wenn die Qualität stimmt. Und hier beginnen sich feine Risse zu bilden, denn wer nicht restlos naiv ist, wird mittlerweile erkannt haben, dass die Macher von TWD Gefahr laufen, ein gutes Produkt mit intelligentem Storytelling in ein Werkzeug zu verwandeln, mit dem man seine Anhänger systematisch zu manipulieren versucht. Da stellt man sich schnell die Frage: Haben Kirkman, Gimple & Co. dies angesichts jener Quoten, die bereits mythische Qualitäten besitzen, überhaupt nötig?



Ganz unten angekommen

Erfolg und Niedergang liegen nah beieinander. Da wusste bereits Shakespeare und die keineswegs dummen Macher der Zombie-Serie wissen es auch. Wer auf hohem Quoten-Niveau agiert, kann mit einigen essentiellen Fehler die „Rise and Fall“-Dynamik auslösen, die dann zu einem jahrelangen Siechtum bis zum völligen Aus führt.
Vielleicht deshalb betonten die Macher unermüdlich, dass es bei der Umsetzung der missratenen Auftaktepisode natürlich um die glaubwürdige Figurenentwicklung gegangen sei. Dies, ich stelle das ohne Ironie fest, ist wohl gelungen, auch wenn die Ekelgrenze drastisch überschritten wurde.

 

„The Walking Dead“ lebt aber nicht von Splatter und Torture Porn, sondern von seinen streckenweise brillanten Subtexten, die vielleicht nicht jeder Fan bewusst wahrnimmt, aber durchaus nachhaltig spüren kann.
Das charakterisierte auch die überwiegend sehr gute 6. Staffel, in der sich Rick endgültig zu einem Warlord entwickelte, der offenbar Machiavellis Empfehlung folgte, dass ein Herrscher „so lange nicht vom Guten ablassen (soll), wie es möglich ist, aber sich dem Bösen zuwenden, sobald es nötig ist.“ 

Die Verwandlung des Gruppenanführers vom moralischen Familienmenschen zu einem skrupellosen Leader, der sich und den harten Kern seiner Gruppe bei der Hilltop Community als Auftragskiller verdingte, zeigte, dass Rick Grimes wohl
Machiavellis Rat gefolgt ist. Die Staffel besaß aber auch wegen der moralisch-reflektierten Subtexte eine reizvolle Konsequenz (z.B. die Ethikdebatte in „Here’s not here“, ep 4, season 6), deren Details erst recht sichtbar werden, wenn man sich alle Episoden zum zweiten oder dritten Mal anschaut.
Alles verlangte nun inmitten der brutalen Kämpfe um die Ressourcen nach einem potenten Gegenspieler, der die Sache mit dem Guten locker übersprungen und gleich zum Bösen übergegangen war. Das konnte man bereits in den Comics anschauen und Machiavellis Anti-Humanismus wurde mit der Figur des Negan spektakulär übertroffen. Sie dürfte in etwa auch Robert Kirkmans zivilisationspessimistische Philosophie auf den Punkt gebracht haben. 


Nun ist Robert Kirkman aber nicht William Shakespeare und Negan nicht Richard III., jener königliche und hässliche Massenmörder, der auf dem Höhepunkt der Macht zu Falle kommt. Die Comics lassen bislang offen, was aus ihm wird. Aber zumindest Ricks tiefer Fall zeigt, welche Qualitäten die Serie mit ihren schlauen Subtexten auch zu bieten hat. „Uns gehört die Welt“, stellte Rick selbstzufrieden fest. Nun ist er unten angekommen. Ganz unten.
So weit, so gut. Doch was das Narrativ fordert, ist eine Sache. Wie man es macht, ist eine andere. Auch die Macher von „The Walking Dead“ können ganz unten ankommen, auch wenn sie immer noch glauben, dass ihnen die Welt gehört.


Nachtrag: In der Nacht zum Sonntag sahen über 17 Mio. Zuschauer die Staffelpremiere - und das sind nur die Zahlen aus der Gruppe der 18-19-Jährigen. Dies entspricht einem Nielsen-Rating von 8.4.