Freitag, 2. Oktober 2015

„Weissensee“ sorgt für TV-Sternstunde

Die Zeit zwischen dem Fall der Mauer und dem Sturm auf die Stasi-Zentrale Berlin im Januar 1990 wird in der 3. Staffel der ARD-Serie „Weissensee“ in den Wirren von Familiengeschichten gespiegelt. Und erneut sind es die Kupfers und Hausmanns, in denen die turbulente Wendezeit dramatisch nachgezeichnet wird. Diesmal eher als Polit-Thriller aus Sicht der Stasi. Ganz großes Fernsehen.

„Weissensee“ kann man mittlerweile als Marke bezeichnen. Was immer sich die Öffentlich-Rechtlichen ausgedacht haben, um horizontales Erzählen nach dem Vorbild amerikanischer Serien auf den heimischen Bildschirm zu bringen – in „Weissensee“ gelingt es auf vorbildliche Weise. Die ARD hat zudem gelernt, was Binge Viewing bedeutet. An drei Tagen waren die sechs Episoden der neuen Staffel zu sehen: bild- und sprachgewaltiges TV mit exzellenten Darstellern, einem ausgefeilten Script und einer Binnensicht auf deutsche Geschichte, wie man sie nur selten in dieser Qualität zu sehen bekommt.


Ausbalancierte Schizophrenie: Die Stasi plant die Zukunft

Dass diesmal der Fokus auf die desorientierten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gelenkt wird, ist nur konsequent. Wie ein Erdbeben erschüttern die historischen Ereignisse, mit denen der Niedergang der DDR eingeläutet wird, die selbstgewissen Herrscher über den inneren „Frieden“ eines Landes, das nicht nur ökonomisch am Ende ist. Und so rückt mit Falk Kupfer (Jörg Hartmann) jene Figur in den Mittelpunkt, die bislang souverän und ohne Selbstzweifel die Kunst der Kabale und Zersetzung meisterhaft beherrscht hat. Der zum MfS-Generalmajor aufgestiegene Intrigant muss nicht nur die Fäden ordnen, die er mit seinen vorherigen Machenschaften ausgelegt hat. Er erkennt auch, dass seine Tage gezählt sind. Beinahe folgerichtig agiert er wie ein Chamäleon, stellt sich je nach Bedarf als Hardliner, dann als reformbereit dar und verrät seine Mitstreiter schließlich an einen westlichen Nachrichtendienst. Gegen Geld und Straffreiheit. Es muss ja auch „danach“ irgendwie weitergehen. Dass einer wie er auch in Zukunft immer etwas finden wird, wo er gebraucht wird, bescheinigt ihm sein westlicher Führungsoffizier angewidert. Jörg Hartmann, der ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Figur hat, weiß dies auch: Einer wie Kupfer könne mit dem Konsensgelaber nach der Wende nichts anfangen, er müsse sich Nischen mit vertrauten Hierarchien suchen: “Machen wir uns nichts vor, die gibt es im Turbokapitalismus auch.“

Jörg Hartmann spielt diesen Karrieristen grandios. Möglicherweise ist es die Rolle seines Lebens. Hartmann ist erneut reif für den Deutschen Fernsehpreis. Dies verdankt der Mime auch dem ausgezeichneten Script, aber wie er es interpretiert, ist bemerkenswert: keine holzschnittartigen Schablonen, aber auch keine Momente, in denen der Zuschauer Anflüge von Sympathie mit dieser Figur haben könnte. Hartmann spielt diese Stasi-Existenz nicht als „Bestie auf leisen Sohlen“, wie die ZEIT vermutete, sondern als einen Mann, der in einem repressiven und spießigen System sozialisiert worden ist. Es hat ihn gelehrt, die Schizophrenie auszubalancieren, die zwischen dem Glauben an einen humanen Sozialismus und dessen menschenverachtender Umsetzung entsteht. Die ausgesuchte Höflichkeit, die er im Umgang mit seinen Opfern pflegt und die eisige Kälte, mit der er Menschen manipuliert und auch ihren Tod billigend in Kauf nimmt, ist eine Reise ins Herz der Finsternis.
Ein reflexiver Zugriff ist ihm nicht möglich, seinem selbstkritischen Vater Hans, einem MfS-Mann der ersten Stunden, kann er dabei nicht folgen. Dafür macht sein Herz schlapp und auch der Besuch bei einer Prostituierten endet damit, dass er sich weinerlich wie ein Kind im Bett zusammenrollt. Irgendwie eine erschreckende deutsche Existenz, die sich am Ende nach allen Schandtaten in die Tasche lügt und nur noch die eigene Familie retten will. Und natürlich auch sich selbst. Hatten wir alles schon einmal viele Jahrzehnte zuvor.

Auch seinem Bruder Martin (Florian Lukas) geht es nach dem Verlust von Frau und Kind nicht gut. Ihm wird in „Weissensee“ immerhin eine neue Liebe spendiert: die herzenswarme West-Journalistin Katja Wiese (Lisa Wagner). Zusammen versuchen beide herauszufinden, wo Martins nach der Geburt vertauschte Tochter lebt und wer für den Tod von Julia Hausmann verantwortlich ist. Seine Figur steht für jene Menschen, die sich auflehnen, ohne dabei politisch zu werden, die verzweifeln, ohne sich von der Amoralität der Anderen infizieren zu lassen. Florian Lukas spielt dies als Fallstudie moralischer Integrität ohne Anflug von Pathos.


Auch die „Chinesische Lösung“ war möglich

Was der von Anne Hess und Regisseur Friedemann Fromm geschaffenen Serie auch diesmal gelingt, ist die Balance zwischen historischen Ereignissen und familiären Befindlichkeiten. Dabei legt das Tempo der 3. Staffel von „Weissensee“ noch einmal kräftig zu. Natürlich wird der Mauerfall gezeigt, aber auch die legendäre Pressekonferenz des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski, der völlig überfordert die Sperrfrist für die beschlossenen Reiseerleichterungen vergaß und somit dafür sorgte, dass die Grenzübergänge am 9. November 1989 chaotisch, aber friedlich überflutet wurden.
Selbst Erich Mielkes erbärmliche Rede vor der Volkskammer („Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen“) wird in „Weissensee“ gezeigt. Mielkes ungenannter Satz „Hinrichten die Menschen ohne billige Sätze, ohne Gerichtsbarkeit und so weiter“ (MfS-Tonbandprotokoll) zeigt auf, was die ARD-Serie immerhin andeutet: Alles konnte in diesen Tagen und Stunden passieren, auch die „Chinesische Lösung“, die zu einem Blutbad geführt hätte. So aber zeigt „Weissensee“, wie sich die letzten Zuckungen des System nach dem 9.11. darauf konzentrieren, die Oppositionsbewegung und den „Runden Tisch“ mit Unterwanderung, Erpressung und Falschinformation zu zersetzen. Dass in der Berliner Oppositionsgruppe, in der auch Falk Kupfers Ex-Frau Vera (Anna Loos) und die Sängerin Dunja Hausmann (Katrin Sass) mitarbeiten, ausgerechnet ein Stasispitzel den Vorsitz hat und sich selbst als Spitzeljäger profiliert, lässt das Ausmaß der Perfidie noch mehr auf den Magen schlagen als der überraschende Tod der oppositionellen Galionsfigur Robert Wolff (Ronald Zehrfeld) zu Beginn der Staffel. Hier schreckten die „Weissensee“-Macher nicht davor zurück, eine charismatische Figur nicht nur aus dramaturgischen Gründen zu opfern.


Starke Nebenfiguren: Wie man ein gutes Script schreibt

Aber „Weissensee“ unterscheidet sich dann doch ein wenig von den ersten beiden Staffeln. Alles läuft etwas schneller ab, immer stark auf dramatische Plot Points konzentriert. Die Serie bedient dabei genreübergreifend mehrere Formate: Familiensaga, Krimi, Polit-Thriller und Geschichtsdrama. Dass sie sich dabei nicht verhebt, macht sie zu einem Lehrstück in Sachen Drehbuchschreiben. Alle Rädchen greifen verblüffend perfekt ineinander, bis hin zu den gut konturierten Nebenfiguren wie zum Beispiel Heinz Peter Görlitz, der als Vopo Stephan Grossmann für das comic relief sorgt, oder Hansjürgen Hürrig, der als Generalleutnant Günther Gaucke einen Hardliner gibt, der auch nach seiner Degradierung zum Feldwebel eine gefährliche Aura verbreitet. Sie lässt ahnen, dass die alten Seilschaften nicht bereit sind, auch nach der bevorstehenden politischen Wende ihre Macht aufzugeben. Stark ist auch die Rolle von Roman (Ferdinand Lehmann), dem Sohn Falk Kupfers. Er wendet sich angeekelt von seinem Vater ab und geht in Westen, aber nur um zu erleben, dass er in einer Kultur, in der Geld an erster Stelle steht, genauso wenig zu Hause sein kann wie in der Gesellschaft, für deren Niedergang auch sein Vater und sein Großvater verantwortlich sind.

„Weissensee“ endet mit einem großen Cliffhanger und einigen kleinen. Ob es weitergeht, steht in den Sternen. Zwischen den 2010, 2013 und 2015 ausgestrahlten drei Staffeln entstanden immer lange, eigentlich viel zu lange Pausen. Und dass jetzt möglicherweise die Quoten über eine Fortsetzung entscheiden, in der man die Wiedervereinigung und die Jahre der Treuhand erzählt bekommt, aber auch mehr über das Schicksal der Kupfers und Hausmanns erfahren könnte, ist für ein öffentlich-rechtliches Renommierprodukt eigentlich ein Unding. Produzentin Regina Ziegler und ihr Team wollen weitermachen und „drohen“ für den Fall der Fälle bereits mit einem Kinofilm. Das wäre schön. Als neues Kapitel der deutschen TV-Geschichte wäre es Offenbarungseid und Desaster zugleich.
„Weissensee“ gehört ins Fernsehen.
 
„Weissensee“ – Deutschland 2010–2015 – 18 Episoden in 3 Staffeln – Laufzeit: 900 Minuten – Drehbuch: Anette Hess, Drehbuch/Regie: Friedemann Fromm – Darsteller Staffel 3: Jörg Hartmann, Florian Lukas, Uwe Kockisch, Ruth Reincke, Anna Loos, Katja Wiese, Katrin Sass, Stephan Grossmann, Hansjürgen Hürrig, Ferdinand Lehmann, Ronald Zehrfeld.