Samstag, 1. August 2015

Pride

Ganz in der Tradition von Mike Leigh, Stephen Frears und Ken Loach erzählt der Theater- und Filmregisseur Matthew Warchus in „Pride“ von einer seltsamen Begegnung der dritten Art: Schwule und Lesben unterstützen einen Streik stockkonservativer Bergarbeiter und überwinden in Stein gemeißelte Vorurteile. Zu schön, um wahr zu sein? Mitnichten. Der zweite Film von Matthew Warchus basiert auf einer wahren Begebenheit.

Manchmal hilft das Kennenlernen. Ähnlich wie bei uns, wo Flüchtlinge, die man nicht kennt, als überdimensional gefährlich wahrgenommen werden, konnten sich auch die Bergarbeiter im walisischen Onllwyn nicht vorstellen, ausgerechnet von Schwulen und Lesben Hilfe zu bekommen. Man kannte sich nicht und Vorurteile ersetzen in solchen Fällen lebendige Erfahrungen.
„Pride“ versetzt uns ins Jahr 1984. In Großbritannien streiken die Bergbauarbeiter gegen geplante Zechenschließungen und einschneidenden Jobabbau. Dann geschieht etwas Unerwartetes: Während der Londoner „Gay Pride“-Demo erkennt eine Handvoll schwuler und lesbischer Aktivisten in den politisch bekämpften und von Teilen der Medien ausgegrenzten Bergarbeitern so etwas wie Seelenverwandte. Sie beginnen Geld zu sammeln, nicht ganz ohne Widerstand in den eigenen Reihen, aber dann gelingt es ihnen nicht, das Geld an den Mann zu bringen. Wertkonservativ ausgerichtet und mehr als ein bisschen homophob, lehnen die Gewerkschaften die Unterstützung aus dem anderen Lager ab. Also beschließt die Truppe um die Aktivisten Mike (Joseph Gilgun) und Mark (Ben Schnetzer), unterstützt unter anderem von dem schüchternen Joe (George McKay), der radikalen Lesbe Steph (Fays Marsay) und dem charismatischen Jonathan (Dominic West, „The Wire“), die nicht geringe Summe direkt vor Ort abzuliefern. Mit einem klapprigen Bus brechen sie nach Südwales auf. Der unerbetene Besuch aus London stößt bei den ungläubigen Bergarbeitern und ihren Familien zunächst nicht auf Begeisterung.


„Enemy within“

Der sogenannte „Coal Strike“ richtete sich in erster Linie gegen die Privatisierung und Schließung der Kohlezechen, war aber auch eine Reaktion auf technologischen Veränderungen bei der Energieversorgung (Öl statt Kohle) und beschreibt somit auch den beginnenden industriellen Wandel einer Gesellschaft, in der traditionelle Arbeitsbereiche wie der Kohleabbau offenbar keine Zukunft mehr hatten. Die Pläne der Thatcher-Administration sollten kurzfristig zum Abbau von 20.000 Jobs führen, die Folgen der geplanten Privatisierung waren nicht absehbar. Die englischen Gewerkschaften gingen dagegen auf die Barrikaden. Bereits kurz nach Beginn des Streiks kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Mit Toten und Schwerverletzten.
Der britische Bergarbeiterstreik dauerte ein Jahr. Nach seinem Ende im Jahr 1985 war die Bedeutung der englischen Gewerkschaftsbewegung deutlich geringer geworden. Dies war auch das politische Schlüsselziel der neo-liberalen Regierung von Margaret Thatcher, die als Premierministerin bereits lange zuvor die Gewerkschaften als „Enemy within“ (Feind im Inneren) bezeichnet hatte, mobile Einsatztruppen der Polizei gegen die Gewerkschaftler und Arbeiter in Stellung brachte und dank der Employment Acts legale Streiks kriminalisieren konnte. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was eine deutsche Bundeskanzlerin mit ähnlichen Worten und Taten hierzulande auslösen würde: wohl einen bundesweiten Flächenbrand.

„Pride“ erzählt mitreißend eine Episode, die sich tatsächlich während des „Coal Strike“ ereignet hat. Der britische Schauspieler und Autor Stephen Beresford hat sich gleich mit seinem ersten Filmdrehbuch große Meriten verdient. Natürlich gestattete sich Beresford einige künstlerische Freiheiten, seine Geschichte rekonstruiert den Kern der Ereignisse aber recht authentisch (zu beachten ist das ausgezeichnete Bonus-Material der DVD). „Pride“ ist aber keineswegs ein Agit-Prop-Film, sondern eine gut geölte Sozialkomödie, ein Film von der Art, wie ihn möglicherweise nur die Briten hinbekommen. Charmant, aber präzise in der Milieuzeichnung. Unsentimental, aber mit lebensnahem Humor. Und Beresford brachte auch das Kunststück fertig, eine Reihe komplexer Haupt- und Nebenhandlungssträngen so geschickt miteinander zu verknüpfen, dass man nie den roten Faden aus den Augen verliert.

Das ist auch nötig, denn In Onllwyn prallen zwei Welten aufeinander. Die urbanen Schwulen und Lesben treffen auf eine traditionelle Arbeiterkultur, die sehr konservativ ist, aber – von Ausnahmen abgesehen – nicht boshaft und aggressiv auf die Fremden reagiert. „Pride“ zeigt, wie unterschiedliche Milieus sich arrangieren können und dabei solidarische Ressourcen mobilisieren, wie man sie heutzutage kaum noch antrifft. Trotzdem: Einige Bergarbeiter wollen mit den „Perversen“ aus der Großstadt zunächst lieber nichts zu tun haben. Schließlich gewinnen die Repräsentanten der „Lesbians an Gays Support the Miners“ (LGSM) doch die Herzen der kleinen Gemeinde, in der viele Familien seit Generationen für die Minengesellschaften arbeiten. Weniger durch politische Parolen als vielmehr durch ihr unbekümmertes und cooles Auftreten. Immer mehr Onllwyner können sich für die Unterstützer erwärmen, allen voran der wieder einmal groß aufspielende Bill Nighy als etwas schüchterner Gewerkschaftssekretär oder Imelda Staunton in der Rolle der energischen Hefina.


Solidarität unter Fremden

Vorurteile durch eigene Erfahrungen zu ersetzen und Mut zur Begegnung sind die Grundlagen gelebter Solidarität. Das mag pathetisch klingen, aber so in etwa lässt sich die Botschaft von „Pride“ auf einen verlässlichen Punkt bringen. Matthew Warchus fängt dies in seiner zweiten Regiearbeit mit großartiger Leichtigkeit und staubtrockenem Humor ein, etwa wenn mutig gewordene Bergarbeiterfrauen mit den neuen Freunden eine Hardcore-Schwulenbar stürmen oder Jonathan mit seinen Disco-Tanzkünsten die etwas steifen Männer verblüfft, die anschließend von ihm sogar einige Tipps erhalten, mit denen sie die Gunst der Damenwelt erobern. So macht man sich Freunde.

Überhaupt spielt Musik eine Schlüsselrolle in „Pride“. Der Soundtrack von „Pride“ ähnelt einer Revival-Tour durch die 1980er Jahre. Von den Queen mit „I want to Break Free“ über Bronski Beat, Frankie goes to Hollywood, die Pet Shop Boys und Pete Seegers „Solidarity Forever“ bis hin zum berühmten Protestsong „Bread and Roses“ werden musikalisch alle Register gezogen, ohne dass der Verdacht aufkommt, dass es sich bei dem Film um eine nette Retro-Komödie handelt.

„Pride“ ist vielmehr das leichtfüßige Protokoll einer beinahe vergessenen Geschichte in der großen Geschichte, einer Zeit, der die Digitalisierung noch fremd war, aber die Globalisierung bereits ahnen konnte. Ein bemerkenswerter Ensemblefilm, der durch die facettenreich dargestellten Geschichten der vielen Figuren sehr viel Glaubwürdigkeit erreicht. Unterschiedliche Menschen treffen sich, nähern sich vorsichtig an und machen die Erfahrung, dass trotz aller Andersartigkeit für alle im Boot Platz ist. Bemerkenswert ist daher nicht nur der Erfolg der LGSM-Aktivisten, sondern auch die Bereitschaft der Alteingesessenen, für sich selbst einen neuen und offenen Blick auf die „Anderen“ zuzulassen.
Das gelingt Warchus, indem er viele kleine Geschichte am Rande miterzählt. „Pride“ ist daher – es überrascht eigentlich kaum - auch in den Nebenrollen spannend besetzt. Zum Beispiel durch die toll spielende Jessica Gunning, die mit viel Herz die engagierte Hausfrau Sian James verkörpert. Die reale Sian James überwand nach dem Streik soziale Schranken, begann ein Studium und zog 2005 als Abgeordnete der Labour Party ins britische Unterhaus ein, wo sie sich unter anderem für die Gleichberechtigung von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung einsetzte. Auch hier lohnt ein Blick ins Bonusmaterial.
Als dann irgendwann die konservative Yellow Press eine mediale Hetzjagd auf die LGSM beginnt („Perverts support the Pits“ – Perverse unterstützen die Grubenarbeiter), reagieren die Attackierten auf ihre Weise: Man organisiert das Benefizkonzert „Pits and Perverts“ – treffsicherer kann ein Kommentar kaum ausfallen. Die im Film dabei geschlossenen Freundschaften waren im realen Leben übrigens von langer Dauer.

Eine gleiche Gesinnung in einer homogenen Gruppe muss noch lange nicht den Geist der Solidarität widerspiegeln. Sie kann auch zur Abschottung führen. Solidarität richtet sich dagegen immer an die Schwachen, die Hilfsbedürftigen. Jene, die bei uns Flüchtlingsheime abfackeln oder in Ungarn und schließlich auch im einst so liberalen Dänemark eine offene Fremdenfeindlichkeit propagieren, werden „Pride“ nicht verstehen. Man darf nicht hoffen, dass sie eine jesidische Familie zum Grillfest einladen. Oder?

„Pride“ gewann beim Cannes Film Festival 2014 die „Queer Palm“.


Noten: Melonie, BigDoc, Klawer = 2


Pride – Regie: Matthew Warchus – Buch: Stephen Beresford – D.: Ben Schnetzer, Joseph Gilgun, Dominic West, George McKay, Andrew Scott, Paddy Considine, Imelda Staunton, Bill Nighy, Jessica Gunning – Laufzeit: 120 Minuten – FSK: Ab 6 Jahren.