Dienstag, 31. März 2015

The Walking Dead – Season 4 & 5

Die Zombie-Plage als Endlosgeschichte - nach dem Willen ihrer Schöpfer wird sie nie zu Ende erzählt. Ruhelos durchstreifen die Überlebenden das, was einst ihre Heimat war, immer auf der Suche nach einem neuen „Home“.
Bis sie von den Walkern erwischt werden - oder von den Menschen. Wie sie sich dabei verändern und dann sterben, davon erzählen die Staffeln 4 und 5 von „The Walking Dead“ mit neuen raffinierten Plot-Ideen. Ein Rückblick.


An die Kette gelegt

Niemand weiß, wie eine Post-Apokalypse aussieht. Als im März dieses Jahres im Berliner Friedrichshain-Kreuzberg nachts die Lichter ausgingen, nutzten Vermummte den Stromausfall sofort. Innerhalb weniger Minuten brannten Barrikaden und Autos, die Geschäfte wurden geplündert und die Polizei wurde frontal und extrem gewalttätig attackiert. Alles ohne Zombies, aber dennoch mit einem Schuss „Walking Dead“ und „Purge Anarchy“.

Auch die US-TV-Serie bietet im Kern keine anderen Bilder, nur regiert in der Fiktion die Post-Apokalypse noch erbarmungsloser. Die Untoten sind vom Stammhirn gesteuerte Idioten, die eigentliche Gefahr geht von den Menschen aus.
Daran wird sich nichts ändern: Die Vision des „Dead“-Schöpfers Roland Kirkman sieht eine Endlosgeschichte vor, in der die Überlebenden niemals zur Ruhe kommen werden. „Fight the dead, fear the living“ lautet daher das Gesetz des Überlebens.

 

Die Gesetze des Storytelling legen die Geschichte um Rick und seine Family dabei sehr eng an die Kette. Die Walker sind eine kalkulierbare Bedrohung, die Menschen müssen immer unberechenbarer und schlimmer werden. Der Governor war noch ein halb-ziviler Bürgermeister, vergleicht man ihn mit den Terminus-Kannibalen. Und wenn der Superschurke Negan in „The Walking Dead“ (TWD) irgendwann auftaucht, wird auch die Barbarei einen neuen Höhepunkt finden. Nie war eine Dystopie finsterer als die in „The Walking Dead“.


Was TWD bis jetzt von einer Splatter-Horror-Show unterscheidet, ist die Qualität der Charakterdramen. Nur darf man dies nicht als Weg ins Licht deuten. Erhaben ist längst nichts mehr. Der Serie wird trotzdem hierzulande immer noch als moralische Schaubühne interpretiert: „Die Serienmacher spielen sehr bewusst mit den Versatzstücken des Genre-Films, mit Elementen aus dem Splatter- und Horror-Genre, aber auch aus Action- und Gangsterfilmen. Damit schaffen sie einen sehr populären Erzählrahmen, in dem sie dann plötzlich und unerwartet tief greifende Fragen von Humanität und Moralität verhandeln. (…) Der einzelne Mensch, der überlebt hat, kann – so will es The Walking Dead zeigen – weiterhin moralischen Standards folgen. (…) So präsentiert die Serie auch im weiteren Verlauf immer wieder überraschende Varianten im Verhalten der Figuren, um letztlich moralisch integer die dargestellten Extremsituationen meistern zu können“ (1).


Geschrieben wurde dies vor einigen Wochen und über die 1. Staffel ging die Betrachtung der fsf (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen) nicht hinaus. Dass deutsche Medienpädagogen fünf Jahre nach Beginn der Serie ihre Deutungen immer noch an den ersten Folgen festmachen, deutet nicht nur ein verzögertes Rezeptionstempo an. Es ist ein Zeichen der Ignoranz und ein Indiz dafür, dass hierzulande großräumige Untersuchungen einer der erfolgreichsten TV-Serie aller Zeiten weitgehend fehlen.
In den USA ist die Mediendiskussion aktueller, breiter und vielfältiger. 
Wenn ein deutscher Medienschützer also nicht mehr mitbekommt, in welche Richtung sich die Protagonisten einer Serie entwickeln, dann liest man dies staunend und mit offenem Mund. Zwar wird TWD in den deutschen Feuilletons zur Kenntnis genommen, aber wenn in regionalen Tageszeitungen aus der Not eine Tugend gemacht wird und ein hipper Praktikant im Medienbereich ‚lustig‘ und ironisierend über die Zombie-Serie schreiben darf, kann dies auch als Ausdruck der medialen Fassungslosigkeit gesehen werden. Die dauerte bereits bei „Lost“ einige Jahre, bis die Medienexperten mitbekommen hatten, dass da etwas die Menschen mit ungeheurer Wucht in ihren Fernsehsesseln erreicht hatte.


Ob in 4. und 5. Season die Figuren „moralisch integer die dargestellten Extremsituationen meistern“, wird ein Thema dieses Aufsatzes sein. Ich habe da große Zweifel. Vielmehr deutet sich an, dass wir es in TWD mit einer zynischen Variante von „Breaking Bad“ zu tun haben, in der die Überlebenden die permanenten Gewaltexzesse eben nicht mehr verdauen und sich schleichend verändern. Sie werden böse. Nicht jeder und auch nicht alle. Aber bitte nicht vergessen: die großen Moralisten der Serie, Dale und Hershel, sind tot und Nachwuchs ist nicht in Sicht. Die Frage ist also, ob TWD in Zukunft zivilisiertes Handeln weiterhin als Option verteidigt oder langsam dem Zynismus verfällt.


Gleich eine Warnung zu Beginn: Vor Spoilern wird im Folgenden nicht gewarnt (2). 
Mein Standpunkt: Nach der TV-Uraufführung (auch wenn es im Pay TV gewesen ist) darf geschrieben werden. Wer liest, der liest immer auf eigene Gefahr. Außerdem füttern Online-Fanseiten ihre Leser ständig mit Andeutungen, Vermutungen und halben Fakten an – ein Kokettieren mit der Lust der Fans, die insgeheim doch ein wenig hinter die Kulissen blicken wollen.
 Im folgenden Text gilt die Regel: Das Staffelfinale von Season 5 wird natürlich nicht verraten, dies gilt aber nicht für dramaturgische und stilistische Details, für Besonderheiten des Plots und auch nicht für die Psychologie der Figurenentwicklung.


Budgets, Quoten und die Moral von der Geschicht‘

Nachdem die 3. Staffel in den USA regelmäßig von mehr als 10 Mio. Zuschauern gesehen wurde, setzte der Auftakt der Season 4 eine neue Duftmarke: über 16 Mio. Zuschauer wollten wissen, wie es Rick und seine Family nach dem Woodbury-Plot schaffen, die zahlreichen Neuzugänge zu integrieren und dabei gleichzeitig Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Das Drehbuch für die Startepisode „30 Days Without An Accident“ wurde von Scott Gimple geschrieben, der nun auch als Showrunner für die Serie verantwortlich war. Mit Frank Darabont und Glen Mazzara hatte AMC bereits zwei erfolgreiche und gute Showrunner verbrannt, nun sollte es der seit der 2. Staffel als Autor beschäftigte Gimple als neuer Guru richten.

Erinnern wir uns: Nach der 1. Staffel wurde zunächst Frank Darabont gefeuert. Die Vorstellungen von AMC über die zukünftige Budget-Gestaltung passten nicht zu seinen Vorstellungen: „I don’t understand the thinking behind, ‘Oh, this is the most successful show in the history of basic cable. Let’s gut (Anm.: ausweiden) the budgets now.’“ 
Während „Mad Men“ und „Breaking Bad“ sogenannte „High-Profile-Shows“ für AMC waren, sollte ausgerechnet die quotenstärkste Serie im Fundus auf Diät gesetzt werden. Das hätte schnell zum Rohrkrepierer werden, denn TWD hat die beiden Aushängeschilder von AMC bereits mit Staffel 1 überholt und schlug sie mit Beginn der 3. Staffel um Längen.
Tatsächlich wurde die 2. Staffel dann auch dialogzentrierter, um die erhöhte Anzahl von Episoden ohne ein entsprechendes Budget umsetzen zu können. Insider berichteten, dass die doppelte Anzahl Episoden für ein deutlich geringeres Budget produziert werden sollten. Und Darabont hasste es aus sozialen Gründen, mit einem unterbezahlten und frustrierten Team zu arbeiten (3). Das alles also, obwohl TWD nunmehr die einzige Show war, die AMC besaß: „Mad Men“ wurde von Lionsgate produziert, AMC war Lizenznehmer, und „Breaking Bad“ gehörte mittlerweile SONY.


2011 übernahm dann Glen Mazzara als Showrunner mitten in der zweiten Hälfte von Season 2 die Serie (4), aber nach der dritten Staffel war auch für ihn Schluss (5). Neben künstlerischen Differenzen sollen auch für Mazzara die Budgetvorstellungen von AMC nicht tragbar gewesen sein.
Dies war ein Einschnitt, denn insgesamt war Mazzaras Arbeit zuvor über den grünen Klee gelobt worden. Ob dies an den Quoten oder an seiner Arbeitsweise lag, ist unklar. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die AMC-Bosse Mazzara dafür feierten, dass er Viktor Frankls KZ-Drama „Man’s Search for Meaning“ („…trotzdem Ja zum Leben sagen“) als Pflichtlektüre für seine Autoren festlegte (6). Immerhin entstanden unter Mazzaras Leitung Highlights der 2. Staffel wie „18 Miles Out“ (S 2 Ep 10) und „Judge, Jury, Executioner“ (S 2 Ep 11).


Aber Darabont und Mazzara waren nicht die einzigen Showrunner, die an den AMC-Gewaltigen scheiterten. Der permanent schwelende Konflikt hatte auch andere Auswirkungen. So ließ sich der Darsteller des „Dale“ nach dem Rauswurf seines Freundes Darabont aus der Serie schreiben und wurde prompt in „Judge, Jury, Executioner“ von einem „Walker“ gebissen. Und Ende 2012 griff dann auch noch der „Sons of Anarchy“-Schöpfer Kurt Sutter die AMC-Chefetage frontal an, nachdem sein Freund Glen Mazzara TWD verlassen hatte. Sutter prophezeite der Serie ihr baldiges Ende (7).


Im Rückblick zeigt sich, dass Scott Gimple und Comic-Schöpfer Robert Kirkman als Executive Producer allen Unkenrufen zum Trotz den Untergang verhindert haben. Die 4. und 5. Season wurde nicht nur ordentlich über die Runden gebracht, einzelne Episoden zeigten ein hohes Talent für dramatische und unerwartete Wendungen. 
Die Quoten blieben hoch und als die Überlebenden am Ende der 4. Staffel Terminus erreichten, saßen über 15 Mio. Amerikaner vor dem Bildschirm.

Beim Start der 5. Season waren es über 17 Mio. und erneut hatte Scott Gimple das Drehbuch für die erste Episode „No Sanctuary“ geschrieben. Im weiteren Verlauf der Season zeigte sich, dass der neue Quotenstandard für TWD bei 13 Mio. plus lag. Schief gelaufen war da also wenig. AMC durfte sich über die Gewinne freuen.


Fazit: TWD ist natürlich auch ein Produkt der Unterhaltungsindustrie, die eine sehr explizite Renditeerwartung hat. So etwas greift oft sehr tief in die Inhalte ein, während der Fan am heimischen Flatscreen den Tod eines beliebten Darstellers allein dramaturgischen Überlegungen zuschreibt (8).


Von Terminus nach Alexandria

Die Kunst des Geschichtenerzählens: Die Story Arc in TWD

Was aber fesselt die Zuschauer nach wie vor an „The Walking Dead“? 

Die exzessiven Kill-Orgien am Zaun, die zu Beginn der 4. Season beinahe schon wie industrielle Fließbandarbeit aussehen, werden es (hoffentlich) nicht gewesen sein. 
Die vielbeschworenen dramaturgischen und thematischen Qualitäten schon eher. Aber etwas anderes spielt aus meiner Sicht eine wichtige Rolle: Die 4. Season unterscheidet sich von den Vorgängern durch deutlich veränderte Strukturen in der Story Arc. Und das überrascht, konterkariert es doch Kurt Sutters Befürchtung, dass TWD von geldgeilen AMC-Bossen ohne Mut zum Risiko nach Schema F ausgeweidet wird.
Bei den Settings sieht es allerdings ganz danach aus. TWD 4 spielt im Gefängnis, Wald, auf Straßen, in Häusern, erst in der 5. Season endlich mal wieder in einer City – das Meiste sieht nach Sparkurs und wenig Aufwand aus. 
Wechselten sich die Settings in Frank Darabonts kinoreifer Show noch rasch ab und sorgten so für eine ungeheure Dynamik, konzentrierte sich die 2. Staffel aus den erwähnten Kostengründen auf das Thema „Farmleben mit Untoten“.
Für viele war dies ein wenig zu viel Soap, aber der Figurenentwicklung hat es gedient. 
In Season 3 wurde dieses doch sehr übersichtliche Szenario durch den Wechsel zwischen Gefängnis und Woodbury aufgebrochen, was aber ebenfalls überschaubar blieb und zu interessanten Lesarten des herbeigesehnten „Home“ führte.
Die 4. Season machte Schluss damit, ging einen Schritt weiter und verschaffte Nebenhandlungen überraschend den Raum eines Main Plots. Das war neu und zeigte, dass man auch ohne aufwendige Drehorte für frischen Wind sorgen konnte.
 Nachdem in den Episoden 1 – 5 die Gruppe um Rick im Gefängnis mit einem tödlichen Schweinegrippevirus zu kämpfen hat, wechselt mit „Live Bait“ (S 4 Ep 6) der Fokus komplett zum Governor. Normalerweise hätte man dies als Nebenhandlung des Main Plots erzählen können, aber Gimple spendierte der Geschichte zwei komplette Episoden, bevor der Governor in „Too Far Gone“ (Ep 8) mit einer neuen Streitmacht vor den Toren des Gefängnisses auftauchte und wieder Teil der Haupthandlung wurde.
Eine weitere Finesse: Nach der Vertreibung aus dem Gefängnis wechselte TWD 4 dann vom horizontalen Erzählen beinahe zur vertikalen Einzelepisode, in der die Geschichten der versprengten Gruppenmitglieder erzählt werden. Das wird nicht jedem gefallen haben, aber auf diese Weise entstanden bemerkenswerte Figurenportraits und brillante Einzelepisoden wie „The Grove“ (Ep 14).


Auf ähnliche Weise wurde die Story Arc auch in Season 5 arrangiert: Mit „Slabtown“ (S 5 Ep 4) beginnt erneut eine Frame Story (was nicht nur Rahmenhandlung bedeuten muss, sondern auch als ‚Geschichte in der Geschichte‘ fungieren kann). Eine ganze Folge lang wird die Geschichte der kurz zuvor entführten Beth erzählt, die in einem Krankenhaus in Atlanta gelandet ist, in dem Cops ein humanitäres Projekt am Leben erhalten, das sich im Kern jedoch als repressiv und selbstsüchtig erweist.
In der Folge werden die Episoden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. In „Self Help“ (S 5 Ep 5) zeigen kurze Flashbacks die Vorgeschichte Abrahams, „Consumed“ (S 5 Ep 6) nutzt Flashbacks, um zu erzählen, was Carol nach der Bestrafung durch Rick widerfahren ist, ist aber auch gleichzeitig das Prequel von „Slabtown“. Der Atlanta-Plot endet mit „Coda“ (S 5 Ep 8) pünktlich vor der Mid Season-Pause auf dramatische und deprimierende Weise.
Persönlich hat mir die Atlanta-Story nicht gefallen, denn einerseits wurde am Anfang der Staffel der substanziell interessantere Terminus-Plot, der zudem einige offene Fragen zurückließ, zu schnell verheizt, andererseits waren die Scripts der Episoden nicht besonders gut geschrieben: die Cops im Krankenhaus wirkten zu eindimensional, fast schon klischeehaft. Allein der Umstand, dass endlich wieder einmal urbane Settings in TWD auftauchten, war zu begrüßen. Die Backstories der Episoden waren dagegen interessant. Trotzdem erreichte mich 5.1. nicht mehr, obwohl die non-lineare Erzählstruktur formal überzeugte. Nicht nur die „Kannibalen“, auch die „Cops“ wurden zu schnell verkonsumiert. Das sollte sich ändern.


Mit dem Beginn der zweiten Staffelhälfte „What Happened and What’s Going On“ (S 5 Ep 9) besannen sich die Macher und führten TWD zu einer klassischen Erzählweise zurück, die sich ausschließlich und beinahe ohne Nebenhandlungen und ausgelagerte Frames auf die Gruppe um Rick und ihre Reise nach Alexandria konzentriert. Und plötzlich war das Potential der Serie wieder erkennbar. Die Geschichten wurden breiter angelegt und damit auch subtiler, der Spannungs-Quotient stieg sprunghaft an.


Auch wenn diese Veränderungen in der Erzählstruktur für den einen oder anderen unbefriedigend gewesen sind, so zeigten sie sehr gelungen, dass die Macher von TWD nicht den Fehler begehen, angesichts der triumphalen Quoten auf Nummer Sicher zu gehen und alles so belassen, wie es ist. Und es zeigt, dass ihnen offenbar auch die künstlerische Freiheit, dies zu tun, von den AMC-Bossen zugestanden wurde.


Post-Moral in der Post-Apokalypse

TWD ist nach wie vor eine Serie, deren dramaturgische Reize sich erst richtig entfalten, wenn man sie zum zweiten Mal sieht. Wenn man weiß, was passieren wird, werden einige narrative Kniffe erkennbar, die einem beim ersten Mal entgehen können. Auch die Innovationen in der Erzählstruktur sehen dann oft plausibler aus, weil die Konsequenzen bestimmter Ereignisse erst nach vielen weiteren Episoden sichtbar werden. Dabei geht es weniger um den raffinierten Plot-Twist, sondern um die moralischen und emotionalen Konsequenzen von Entscheidungen. 

Stupidity is also a gift of God, but one mustn’t misuse it

 „Ultimately zombie films aren’t about the zombies”, schrieb der amerikanische Filmemacher Matt Zoller Seitz 2009. „In zombie films it’s every man for himself and God against all.“ Mit dieser Prognose (9) erfasste Seitz ein Jahr vor dem Serienstart fast prophetisch den Kern von TWD, besonders auch durch seine provozierende Frage, ob es möglicherweise der ich-bezogene Egoismus sei, der in der Post-Apokalypse die neue Form von Anständigkeit ist.
Das mag zynisch klingen, zumindest aber paradox. Aber Zombies funktionieren eben nicht nur als Projektionsflächen für die eigenen Ängste ganz gut, sondern verlangen von den Figuren eine völlig neue Form der Auslegung dessen, was in diesen neuen Zeiten Zivilisation, Moral, Gesetze und Regeln und Mitgefühl eigentlich sein sollen und können (10).
 

Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung von Rick Grimes, der nicht zu Unrecht den Spitznamen „Ricktator“ verpasst bekommen hat. Auch wenn die Fans in den Foren Rick und seine Entscheidungen in der Regel vehement verteidigen, wird ihnen nicht entgangen sein, dass jener Rick, der kurz vor dem Ende der 5. Season in „Try“ (S 5 Ep 15) ausrastet und von Michonne niedergeschlagen wird, schwer traumatisiert ist und sich langsam, aber mit tödlicher Sicherheit zu einem moralisch angeschlagenen Mann entwickelt hat. Aus dem empathischen und integeren Gruppenführer der 1. Staffel, der sich noch bei einem Zombie für den finalen Todesschuss entschuldigte, war bereits in „18 Miles Out“ (S 2 Ep 10) ein Leader geworden, der Grenzen auslotete - immer bereit, moralische Grenzen zu überschreiten, um seine Frau und seinen Sohn zu schützen.

Nach der Begegnung mit dem Governor und den Kannibalen von Terminus scheint es nun, als sei Rick ein paranoider Doppelgänger seines toten Freunds Shane geworden. In Season 5 ist er in Alexandria bereit, einen Mann zu liquidieren, der in den heimischen Wänden Frau und Sohn verprügelt. Die Todesstrafe für häusliche Gewalt? Für den alten Rick ein No-Go.


All das wird allerdings in vielsagenden Details angekündigt. Wenn in „Four Walls and a Roof“ (S 5 Ep 3) der von Beißern verletzte Bob sterbend auf dem Bett liegt und seine letzten Worte an Rick richtet, wirkt dieser zerfahren und fast abgestoßen von dieser intimen und freundschaftlichen Geste. „Alpträume enden“, sagt Bob, „die sollten jedoch nicht Dich verändern!“
Doch dies ist bereits geschehen und in „The Distance“ (S 5 Ep 11) wird Rick einen Mann brutal zusammenschlagen, der Ricks Gruppe nach Alexandria einladen will. Mit anderen Worten: Rick tut Dinge, für die er Carol in Season 4 noch vom Hof gejagt hat, und er ist auf dem besten Wege, sich in einen neuen Governor zu verwandeln.


Das Massaker an den Terminus-Kannibalen, das Rick in der Kirche der gefallenen Engels Gabriel clever inszeniert, besaß bereits lustvolle sadistische Elemente, die die Zombie-Showkämpfe des Governors locker in den Schatten stellen. Bevor das Schlachten in „Four Walls and a Roof“ beginnt, fährt ein Kameraschwenk sarkastisch über einen von Gabriel Stoke an die Wand gepinnten Sinnspruch: „Dummheit ist auch eine Gabe Gottes, aber man darf sie nicht missbrauchen.“
„Das ist ein Haus Gottes“, protestiert Gabriel nach dem Blutbad. „Nein“, erwidert Maggie, „das sind nur vier Wände und ein Dach.“ 
Während Tyreese kurz zuvor noch sagt: „Ich vergebe!“, hat sich bei den anderen Gruppenmitgliedern ein zynischer Gerechtigkeitssinn durchgesetzt. Auch wenn einige Fans in den Foren anschließend gejubelt haben, könnte das bestialische Massaker an der Terminus-Gruppe in einer intakten Gesellschaft nicht ohne Weiteres mit den Unmenschlichkeiten von Gareths Gruppe gerechtfertigt und verrechnet werden. Und so ist das Blutfest der moralische Wendepunkt der Serie, was „Four Walls and a Roof“ zur besten Episode der 5. Staffel macht. 


„We have to eliminate the threat“ (Rick)

Die Frage nach der Post-Moral in der Post-Apokalypse beschäftigt aber auch andere Figuren. Ich behaupte sogar, dass die Liquidierung eines Kindes in „The Grove“ nicht nur die Figur der Carol zu einer der interessantesten des TWD-Universums gemacht, sondern auch Mediengeschichte geschrieben hat. Nicht wegen des Tabubruchs (etwas Ähnliches geschah ja auch in den Comics), sondern wegen der moralischen Ambivalenz der Figuren. Einerseits kann man Lizzies Taten (Fütterung der Walker am Zaun, Tierquälerei, versuchte Säuglingstötung, Wunsch, sich in einen Untoten zu verwandeln, Ermordung der eigenen Schwester) als Verwüstungen einer kindlichen Seelenlandschaft bezeichnen. Andererseits könnte es auch sein, dass sich Lizzies Entwicklung zu einer klassischen Psychopathin lange zuvor bereits angedeutet hatte. 


Post-apokalyptische Moral hält in solchen Fällen keine Therapie bereit, sondern den ‚human‘ aufgesetzten Kopfschuss als Form pragmatischer Rationalität. Was ist aber ‚richtig‘? Was soll man mit einem Kind tun, dass seine Schwester umbringt und nun eine ständige Gefahr für die Lebenden ist? Wird diese Extremsituation noch „moralisch integer“ im Sinne der Menschenwürde gelöst? Werden hier moralische Werte über den Haufen geworfen oder einfach neue geschaffen und durch Taten bekräftigt?

Carol hattte das Problem im einem Gespräch mit Tyreese zuvor auf den Punkt gebracht: Lizzie ist gestört, ihre Schwester Mika „noch schlimmer“ – sie sei nicht böse genug.
Das Script von „The Grove“ ist brillant geschrieben und wird phantastisch gespielt, besonders von den Kinderdarstellern. Die Episode zeigt noch einmal die Sehnsucht nach einem „Home“, stellt dieses Gefühl aber sofort in Frage. Am Ende triumphiert der Wahnsinn und die Entscheidung für die Euthanasie, ein Begriff, der nichts anderes als „der schöne Tod“ bedeutet. 


„The Grove“ ist natürlich ein gut gewählter Euphemismus. Übersetzt bedeutet dies nicht nur ‚Wäldchen‘, sondern auch ‚Hain‘, ein Wort, das bei uns ein literarischer Topos geworden ist (Goethe: „Der heil’ge Hain“). Es kann der unterschiedlich konnotiert werden, z.B. als Friedenshain, aber auch Totenhain, also Stätten, denen eine ausdrückliche Symbolkraft zugewiesen wird.
Wer immer sich den Episodentitel im „Writer’s Room“ ausgedacht hat, wird dies gewusst haben. Das Wäldchen hinter dem Haus markiert also nicht nur den inneren Abschied von dem ersehnten „Home“ (Carol malt sich zuvor aus, dass man an diesem Ort länger bleiben könne), sondern treibt die Figuren ein weiteres Mal an die Grenzen ihrer ganz persönlichen Ethik, die sich nach jeder Tat auf fatale Weise ändern. Ist das in der Serie noch ein ernst gemeinter Diskurs oder bereits ein zynisches Spiel mit den Figuren? Und den Zuschauern? Es
zeigte in der 2. Hälfte der 4. Season, dass es für deutsche Medienschützer sicher noch genug Fragen in TWD zu beantworten gibt.

  

Rezeptionsästhetisch sind die Zuschauer längst nicht mehr passiv. Ähnlich wie bereits bei „Game Of Thrones“ gibt in den USA sogenannte „Reaction Compilations“, die bei YouTube zu sehen sind: Zuschauer lassen sich während der Show filmen, während besonders schockierende Brutalitäten zu sehen sind. Einige Filmemacher haben sich auf derartiges spezialisiert und zeigen die „What the fuck is this?“-Reaktionen gleich mehrfach im Split Screen. Abgesehen davon, dass dabei sicher auch gestelltes Material entsteht, erkennt man, dass die Medienerfahrung längt ihren persönlichen und erst recht ihren intimen Charakter verloren hat. Man wendet nicht mehr berührt den Kopf ab, sondern schreit nach „Must see“-Vervielfachung.

„Home“ und „Family“ im Kosmos von TWD

Iring Fetscher hat vor 40 Jahren in „Reflexionen über den Zynismus als Krankheit unserer Zeit“ den Zyniker als Menschen charakterisiert, der den drohenden Sinnverlust damit begegnet, dass er sich als Mächtigen begreift, der es nunmehr nicht mehr nötig findet, in irgendeiner Form Rücksicht zu nehmen (11).
Dem zynisch Gewordenen ist die Moral aber nicht gleichgültig, er definiert sie lediglich um. 
TWD zeigt dies auf seine Weise: Der Governor ist ein traumatisierter Machtmensch, der in Season 4 noch einmal die Chance erhält, sich seine verschütteten Werte zu besinnen, aber nicht mehr aus seiner ‚neuen Haut‘ herauskommt. Die Terminus-Kannibalen definieren sich dagegen als Opfer der Gewalt, denen der nackte Zwang zum Überleben eine neue Moral diktiert, nämlich ihre Opfer in kleinen Portionen zu vertilgen. Und Carol, deren Leben eine Spirale aus Verlust und Gewalt ist, demonstriert in TWD, dass Empathie und Nihilismus offenbar keine Gegensätze sind.


Inmitten der neuen zynischen Barbarei scheint die Familie nämlich die letzte Enklave zu sein, die Rettung verspricht. Fetscher hat dies bereits so gesehen und in TWD wird dies auf den Punkt gebracht. Je härter Rick und Carol werden, desto mehr trauen sie einander, desto mehr wird die Gruppe als schützenwerte Family zum letzten erhaltenswerten Ziel in der untergehenden post-apokalyptischen Gesellschaft. Nur so erklärt sich Ricks und Carols tiefes Misstrauen angesichts der auf den ersten Blick aufgeklärt-demokratischen Gemeinde, die in Alexandria lebt. Dass die Macher der Serie dann aber mit den folgenden Ereignissen Rick und Carol Recht zu geben scheinen, ist beinahe selbst schon ein zynisches Spiel mit dem Thema. 
Gewiss ist aber eins: Das Zombie-Virus, das ja alle in sich tragen, bedroht in jeder Hinsicht alle Gewissheiten über alte und neue gesellschaftliche Regeln. Standes- und Klassengrenzen werden neu definiert, Cops sind nicht gut, Pfarrer sind es auch nicht. Vermeintlicher ‚White Trash‘ wie Daryl wird dagegen auf seine schweigsame widerwillige Weise zu einem Moralisten.


Bemerkenswert an der erzählerischen Qualität von TWD ist, dass sich derartige Veränderungen lange vor den teilweise fatalen Konsequenzen andeuten. Dies zeigt, dass die Storyline in psychologischer Hinsicht sorgfältig bis ins kleinste Detail geplant und dann folgerichtig umgesetzt wird. Wenn aber TWD etwas Vorhersehbares für die Figuren bereithält, dann ist es die Erkenntnis, dass sie noch nicht so sehr abgestumpft sind, als dass sie nach ihren Taten kein Grauen spüren können.
Nein, sie spüren es. Sie wissen nur nicht, dass die Folgen für sie noch schlimmer sein werden, als sie es sich in ihren schlimmsten Alpträumen vorstellen können.


Fast schon allegorische Qualität erhält die Wechselbeziehung von paranoidem Misstrauen und dem Wunsch nach Home und Family in der zweiten Hälfte der 5. Staffel, als Ricks Gruppe Alexandria erreicht. Die hermetisch von hohen Schutzwällen umgebene saubere und gutbürgerliche Stadt verwandelt sich schnell in einen ‚Traumort‘ für einige Mitglieder der Gruppe. Deanna, die politische Führerin (ja, so etwas gibt es noch) von Alexandria, ahnt, dass die Härte und das Überlebens-Know-how der ‚Neuen‘ für ihre Gemeinschaft entscheidend sein können. Sie weiß, dass nur die wenigsten der Alteingesessenen in Alexandria in der Lage wären, eine Nacht außerhalb des Schutzwalls zu überleben. Und Rick weiß das auch.


Dass die Thematik ‚erfahrene Zombie-Killer vs. biedere Bürger‘ in der Folge anschaulich durchdekliniert wird und zu Toten führt, ist an sich keine Überraschung. Den entscheidenden Drive erhält der Alexandria-Plot dadurch, dass das Aufeinanderprallen von zwei Lebenswelten zu einem Clash of Civilizations führt, in dem sichtbar wird, wie beschädigt Ricks Gruppe in emotionaler Hinsicht tatsächlich ist. 
Während einige voller Zuversicht sind, ist „Fight the dead, fear the living“ bei Rick und Carol zu tief eingebrannt worden. Beide zeigen zwar Integrationsbereitschaft und wollen wohl auch ausprobieren, ob es klappen könnte, haben aber bereits die Machtübernahme als Ultima Ratio im Hinterkopf. 
Ist der Paranoiker auch dann verrückt, wenn er tatsächlich bedroht wird?


„The Walking Dead“ reagiert in der zweiten Staffelhälfte der Season 5 mit einer grandiosen Erzählung auf die Frage, warum komplexe Systeme mit ihren sozialen und kulturellen Identitäten auseinanderbrechen. Qualitativ gehört dies zu den Highlights der gesamten Serie.
Was wird passieren? Ist es die bedingungslose Akzeptanz der Gruppe und ihres „Ricktators“, die man verteidigen muss, wenn man nicht in ein gänzlich barbarisches Zeitalter eintreten möchte? Oder gibt es eine Katharsis, die alle zur Besinnung bringt?
Wie das enden soll, konnte auch das große 90-minütige Staffelfinale der 5. Season nicht beantworten. Aber eins ist nach dem überraschenden Ende klar: Es wurden und es werden weiterhin moralische Entscheidungen getroffen, die man eigentlich nicht erwartet hat. Was weiterhin passiert ist unklar. Enden soll es ja auch nicht. Es muss weitergehen. Immer weiter. Man darf aber eins nicht vergessen: The Walking Dead sind nicht die Beißer, sondern die Lebenden.


Quellen:

(1) Werner Barg: Moralische Diskurse in The Walking Dead. In: tv diskurs 1/2015 (fsf – Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, S. 80 f.) (abgerufen am 28.03.2015).
(2) Die Spoiler-Hysterie ist mittlerweile zu einer Form der Zensur geworden, die immer drastischer von Fans eingefordert wird. Nicht immer nachvollziehbar: Einerseits wollen Fans interessante Fakten in Erfahrung bringen, andererseits interpretieren sie eine tiefergehende Analysen als Spaßbremse, da die Beschreibung von Zusammenhängen unweigerlich dazu führt, dass Einzelheiten preisgegeben werden. Mittlerweile kann man nicht einmal mehr die Duschszene in Hitchcocks „Psycho“ analysieren, ohne dass nicht jemand empört aufschreit, weil er auch nach einem halben Jahrhundert den Film immer noch nicht kennt und ihm nun der „Spaß“ verdorben wurde. Es ist halt wie bei der Wikipedia: Wer dort am Montag nach der Ausstrahlung freiwillig in die Episodenliste schaut, darf sich nicht wundern, dass dort alles haarklein nacherzählt wird.
(3) The Hollywood Reporter: 'The Walking Dead': What Really Happened to Fired Showrunner Frank Darabont  (abgerufen am 12.07.2012).
Kevin Yeoman: Frank Darabont Discusses ‚The Walking Dead‘ Exit & New Serie ‚L-A. Noir‘  (abgerufen am 27.03.2015).
(4) Bill Gorman (2011): ‘The Walking Dead’ Renewed For A Third Season By AMC' (abgerufen am 27.03.2015).
(5) Jamie Lisa Hebisch (2012): Showrunner Glen Mazzara verlässt Serie. 
Quelle: The Hollywood Reporter  (abgerufen am 27.03.2015).
(6) Scott Meslow (2012): The Post-Apocalyptic Morality of ‘The Walking Dead’
 (abgerufen am 27.03.2015).
(7) Jenny Jecke (2013): Steht The Walking Dead vor Niedergang?  (abgerufen am 27.03.2015).
(8) Die Fans haben mitunter kein Interesse an den produktionsökonomischen Hintergründen ihrer Lieblingsserie. In der immer noch aktuellen Diskussion über die Bildqualität der in Deutschland vermarkteten DVDs und Blurays werden derartige Fakten von Hardcore-Fans geflissentlich ignoriert, auch wenn andere sich begründet über eine lausige Bildqualität der teuren Boxen beschweren. Jede Kritik an TWD ist ein Sakrileg! Dass die Hypothese vom „typischen Zombie-Look“ weiter grassiert, allerdings im Niedergang begriffen ist, überrascht mich daher nicht. Man sollte stattdessen ruhig darüber nachdenken, ob eine technisch ‚preiswerte‘ Produktion der Scheiben durch die Lizenznehmer nicht von ähnlichen Gewinninteressen gesteuert wird, wie ich sie einleitend am Beispiel von AMC beschrieben habe. Der vorliegende Aufsatz bezieht sich jedenfalls auf die VoD-Fassung der 4. Staffel (Amazon) und die Pay TV-Version (SKY) der 5. Staffel, die beide "The Walking Dead" in vorzüglicher HD-Qualität zeigen. Mittlerweile ist die 5. Staffel auch bei YouTube zu sehen und taucht trotz regelmäßiger Löschung immer wieder auf.
(9) Matt Zoller Seitz (2009): Zombie 101 – A Guide to Cinema’s Most Durable Morality Play  (abgerufen am 27.03.2015).
(10) Steven Schlozmann M.D. (2011): The Moral Molasses of The Walking Dead (abgerufen am 27.03.2015).
(11) Michael Heidgen (2013): Inszenierungen eines Affekts – Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne, S. 193 ff.