Freitag, 6. Februar 2015

Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)

Sollten Sie jemals in Ihrem Leben Stimmen hören, dann erzählen Sie es keinem. Erst recht nicht Ihrem Psychiater. Der würde Sie wegsperren lassen. Sollten Sie zu den seltenen Fällen gehören, deren Stimmen real sind und die Ihnen von Ihrer einstigen Existenz als Superheld berichten, dann erzählen Sie es recht keinem. Denn Sie sind womöglich tatsächlich einer. Und dann bekommt man ebenfalls Probleme. Alejandro González Iñárritu hat aus diesem Aufeinanderprallen von Schein und Sein, Kunst und Realität einen Film gemacht, der Kinogeschichte schreiben wird.

Michael Keaton ist Birdman, aber auch der Schauspieler Riggan Thompsen. Für seine Rolle als gefiederter Comic-Held war er einst weltberühmt. Er verdiente viel Geld damit, daran erinnert ihn Birdmans Stimme in seinem Kopf immer wieder. Dann hängte er nach dem dritten Teil der Comic-Verfilmung die Traumrolle an den Nagel. Jahrzehnte später versucht Riggan als Regisseur und Hauptdarsteller eine Bühnenadaption von Raymond Carvers Kurzgeschichte „What We Talk When We Talk about Love“ auf die Theaterbühne zu bringen. Der zwei Tage vor der Premiere bereits sichtlich gereizte Theaternovize gerät aber endgültig aus der Bahn, als einem wichtigen, aber talentfreien Nebendarsteller eine Bühnenlampe auf den Kopf fällt. Zufall?
 Die Vorpremiere sollt abgesagt werden, aber Riggans Freund und Produzent Jake (Zach Galifianakis) schafft es, in letzter Minute einen bekannten Broadway-Star zu engagieren, den exzentrischen Mike Shiner (Edward Norton). Und der krempelt bereits bei der ersten Probe alles arrogant, aber genialisch um. 



Nervenzusammenbruch ante portas

Die Beziehungen zwischen Fiktion und Realität werden in Alejandro González Iñárritus („Amores Perros“, „Babel“, „21 Gramm“, „Biutiful“) Film gleich auf mehreren Ebenen gedeutet, verdoppelt oder gegen den Strich gebürstet. Etwa in der Vita der Darsteller, von denen nicht gerade wenige in Comic-Verfilmungen aufgetaucht sind. Zum Beispiel Edward Norton und Emma Stone. Und wie die fiktive Figur des Riggan Thompsen war Michael Keaton in den 1990er Jahren als Batman-Darsteller zu Weltruhm gelangt, dann stieg er nach dem zweiten Teil aus. Keaton drehte danach etliche Filme, doch außer seiner Rolle in „Jackie Brown“ und einem Galaauftritt in dem Thriller „Desperate Measures“ ist mir nur wenig im Gedächtnis geblieben. Für seine Rolle in „Birdman“ wird der 64-jährige Michael Keaton nun mit Preisen und Anerkennung überhäuft, bei den Academy Awards gilt er zu Recht als heißer Oscar-Kandidat.

Und Keaton spielt tatsächlich die Rolle seines Lebens. Seine Performance als gestresster, übernächtigter und von der inneren Stimme gequälter Mann beeindruckt er von der ersten bis zur letzten Minute. Hinter dem alten Mimen liegen eine weggeworfene Karriere und eine immer noch einfühlsame Beziehung zu seiner Ex-Frau Sylvia (Amy Ryan), die ihm klarzumachen versucht, dass es einen Unterschied zwischen Liebe und Bewunderung gibt. Wohl vergeblich. 
Denn mittendrin befindet sich der längst nicht vergessene Blockbuster-Star, den es zur Kunst zieht, in fragilen Beziehungen zu seiner Ex Lesley (Naomi Watts), die in seinem Stück mitspielt, und seiner aktuellen Freundin, der Schauspielerin Laura (Andrea Riseborough). Konfusion und Chaos der Gefühle. Woody Allen hätte seinen Spaß daran.

Und als würde dies alles nicht reichen, verachtet ihn seine drogenabhängigen Tochter Sam (Emma Stone) für alles, was er tut und seine Unfähigkeit, sich in den sozialen Medien zu präsentieren. Dass es für Riggan nicht nur virtuell, künstlerisch und wirtschaftlich, sondern auch privat um die letzte Chance seines Lebens geht, steht ihm schweißtreibend ins Gesicht geschrieben. Was sucht er? Liebe, die doch zum Verzweifeln ist, oder doch Anerkennung? Um was wird ihm das Publikum zu geben haben, die Kritiker, die Kollegen? Später wird er halbnackt unter dem Blitzlichtgewitter der Handyknipser durch die Straßen laufen. So wird er unfreiwillig zum angesagtesten Twitter-Event des Tages.

Iñárritu zeigt, wie durchgeknallt und bizarr die Welt des Theaters und die Willkür der Medien und Kritiker in einem Hexenkessel wie New York ist. Struggle for success: Riggan ist bereits kurz vor der Premiere ein nervlich ruinierter Künstler, aber als die einflussreiche Kritikerin Tabitha Dickinson (Lindsay Duncan) ihm sein Todesurteil mitteilt, ist er endgültig vernichtet: egal, was er mache, sie wird über sein Stück und seine Performance die vernichtendste Kritik ihrer Laufbahn schreiben. Blockbuster sind irgendwie pornographisch und einer wie er habe auf der Bühne nichts zu suchen. Dass dies nicht weit von Iñárritus Meinung über die Hollywoodschen Supermachtphantasien entfernt ist, ist eine kleine, aber feine Nebenpointe.

Überleben oder Untergehen, Genie oder Wahnsinn, Liebe und Verlassenwerden: der Film kreist um diese Thesen und dekliniert sie sowohl in der privaten wie auch öffentlichen Wahrnehmung der Hauptfigur durch. Und die schonungslose Gangart diktiert dem Mimen der sensationsgierige Fokus der skeptischen Medien. In einem Interview wird Riggan von einem schnöseligen Journalisten mit den Thesen des französischen Philosophen Roland Barthes provoziert, während die hippe Redakteurin eines Cable TV-Senders die tumbe Frage stellt, in welchem Teil von „Birdman“ denn dieser Barthes mitgespielt habe. Gleichzeitig beginnt ein japanischer Journalist überglücklich zu stammeln, als versehentlich von einem vierten „Birdman“-Film die Rede ist. Bereits am Rande des Wahnsinns wird Riggan klar, dass die Welt der Kunst ihn genauso wenig akzeptieren wird wie einen Sylvester Stallone als Hamlet. Willkommen im Jahrmarkt der Eitelkeiten und der Boshaftigkeit, der Kultfilme und der Kunstwelten.

Zu Riggans Nemesis wird der Method Acting-Star Mike Shiner. Shiner ist ein in Broadway-Profi, der beiläufig feststellt, dass er im wirklichen Leben nur Rollen spielt und lediglich auf der Bühne authentisch ist. Nur zu der nicht weniger beschädigten Sam wird er eine einigermaßen ehrliche Beziehung aufbauen. Sie ist besonders dann intensiv, wenn Sam und Mike nachts hoch über den Dächern der Stadt „Wahrheit oder Pflicht“ spielen.
Aus Riggans Bühnenrolle quetscht Shiner zusätzliche Emphase heraus, während einer der Vor-Premieren präsentiert er eine echte Erektion, zu der er sich im wahren Leben nicht imstande sieht, fordert von einer Mitspielerin realen Sex auf der Bühne, schmeißt eine Vorpremiere, als in der Wodkaflasche nur Wasser ist und will in der Schlussszene nicht von einer Requisite, sondern von einer echten Pistole bedroht werden. 
Edward Norton spielt Riggans Antagonisten mit zynischem Charme und so überwältigend gut, dass es nicht wundert, dass er dafür eine Oscar-Nominierung als Bester Nebensteller erhielt. Dass Riggans Bühnencharakter sich am Ende von Carvers Vorlage eine Kugel durch den Kopf schießt, wird noch für eine bitterböse Pointe gut sein, den Premierenerfolg sichern und Shiners manische Realitätsfixierung mit schwarzem Humor quittieren.



Die Entfesselung der Bilder

Dass alles könnte man als eine Medien- und Theatersatire am Rande des Absurden Theaters goutieren. Aber Iñárritu, der bislang für verschachtelte Geschichten bekannt war, hatte offenbar im Sinn, seine Erzählung diesmal kompromisslos linear anzulegen. Schnitte (die gibt es tatsächlich) sucht man im Film vergeblich. Dies liegt nicht nur daran, dass sie wie in Alfred Hitchcocks „Rope“ (Cocktail für eine Leiche, 1948) ziemlich gut versteckt sind. Nein, es sind die gleitenden und zum Glück wackelfreien Bilder der Steadicam, die einen beim Zuschauen derart in einen magischen Sog hineinziehen, dass man vergisst, nach den Tricks zu suchen.

Die Bildgewalt der mit Handkamera und Steadicam aufgenommenen Plansequenzen von Emmanuel Lubezki („The Tree of Life“, „Gravity“) stellen das klassische Montagekonzept Hollywoods kreativ auf den Kopf. Plansequenzen sind an sich nichts Innovatives, Brian de Palma hat bereits Atemberaubendes gezeigt. In „Birdman“, der auf der Theaterbühne und in verwinkelten Backstage-Bereichen spielt und überwiegend aus langen Dialogen besteht, definiert Iñárritus Konzept allerdings völlig neue Lösungen für die Auflösung einer Szene. Wo sonst alles im Gegenschuss-Verfahren gezeigt wird, löst Lubezkis Kamera Dialoge mit Bewegung und Schwenk auf, ergänzt durch die sich ständig im Raum neu arrangierenden Darsteller.

Der Ertrag dieses verblüffenden visuellen Konzepts ist immens: nicht unterbrochen von Reverse Shots fährt die Kamera buchstäblich wie ein Vergrößerungsglas der Emotionen an die Darsteller heran und um sie herum. Grandios der Wutanfall von Riggans Tochter in der Theatergarderobe, der im einem Rutsch gespielt wird, während man ständig einen angeschnittenen Over-Shoulder-Shot von Keaton antizipiert. Keaton kommt aber erst dann ins Bild, als Emma Stone sich in dessen Rücken bewegt und Lubezkis Kamera sich mit ihr.
Entsprechend aufwendig waren die Dreharbeiten. Im Studio wurden die Backstage-Aufnahmen, im New Yorker St. James Theatre die Bühnenszenen minutiös geplant. Takes mussten nach dem kleinsten Fehler abgebrochen werden, in der Regel waren sie erst nach 15-20 Versuchen im Kasten.

Diese ungewohnte Ästhetik wird für den Zuschauer sicher zur Herausforderung. Sie wird durch den Drive des vorantreibenden Perkussions-Soundtracks von Antonio Sanchez noch verstärkt. Dass Iñárritu den Drum Score mit Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ und Musik von Ravel, Tschaikowsky und Rachmaninoff ergänzt hat, brachte indes Ärger – die Nominierung bei den Academy Awards wurde vom Komitee zurückgezogen, da nur Originalmusik zulässig ist. Petitessen, die in den Staaten heftig diskutiert werden (1).



„A thing is a thing, not what is said of that thing“

Über all dem schwebt in seltenen Momente der Gelassenheit Riggan Thompson. Nicht metaphorisch, sondern tatsächlich. Im Schneidersitz, ein Meter über dem Boden. Es ist eine der ersten Einstellungen des Films und sie kündigt den enigmatischen Teil der Story an. Denn Thompson, so zeigt es „Birdman“ in einem bilderberauschten letzten Akt, scheint tatsächlich ein Superheld zu sein, der zudem noch telekinetische Fähigkeiten besitzt. Gegenstände werden wie von Zauberhand bewegt und Thompsons innere Birdman-Stimme wird an ihn appellieren, in jene Welt zurückzukehren, in der sich Riggan Achtung und Respekt erworben hat. Dort interessieren sich die meisten Menschen eben nicht für Kunst, sondern für Popcorn. Und so hebt Riggan ab und fliegt wie Spiderman durch die Straßenschluchten der City.

Nun ist Alejandro González Iñárritu alles andere als ein Freund der Superhelden: „I think there’s nothing wrong with being fixated on superheroes when you are 7 years old, but I think there’s a disease in not growing up. The corporation and the hedge funds have a hold on Hollywood and they all want to make money on anything that signifies cinema. When you put $100 million and you get $800 million or $1 billion, it is very hard to convince people. (...) I always see [superheroes] as killing people because they do not believe in what you believe, or they are not being who you want them to be. I hate that, and don’t respond to those characters. They have been poison, this cultural genocide, because the audience is so overexposed to plot and explosions and shit that doesn’t mean nothing about the experience of being human…“ (2)

Ist Iñárritus Spiel mit dem Genre angesichts dieser Aversion ein persönlicher Exorzismus oder drastische Ironie? Der Zuschauer wird es nicht leicht haben, eine Antwort zu finden. Wenn Emma Stone (The Amazing Spider-Man, 1 und 2, 2012-2014) während ihrer nächtlichen Treffen mit Edward Norton on the top of the roof ihre Füße über dem Abgrund baumeln lässt, kann man das als Ironie interpretieren: Springt sie in die Tiefe oder fliegt sie auch davon?
Nicht nur in dieser Szene spielen Iñárritu und seine Co-Autoren Nicholás Giacobone, Alexander Dinelaris Jr. und Armando Bó Pingpong mit dem verhassten Popcorn-Genre. Der Film lässt den Zuschauer dann aber phantasievoll zwischen allen Stühlen sitzen. Nie wird klar, was Riggan wirklich ist: ein Mann, der halluzinierend mit einem Fuß in einer handfesten Schizophrenie steckt oder ein mit mächtigen Gaben ausgestatteter Superheld von der Sorte, die Iñárritu so hasst. Beide Optionen werden bis zur letzten, erstaunlichen Einstellung virtuos bedient und es funktioniert wie mit den vom Himmel regnenden Fröschen in „Magnolia“. Wir wissen, dass es so etwas nicht gibt, aber wir trauen den Bilder und fragen, ob vielleicht nicht doch ...

Dem steht etwas Pragmatisches entgegen: A thing is a thing, not what is said of that thing. Den Spruch hat sich Riggan an den Garderobenspiegel geheftet. Bei der Sache zu bleiben bedeutet, nicht auf das Geschwätz zu hören. Und die titelgebende unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit ist halt der Moment der Entzauberung, der die Ausweglosigkeit und das mögliche Scheitern erkennen lässt, aber auch die Ignoranz erzeugt, die nötig ist, um danach weiterzumachen. Der mexikanische Regisseur entpuppt sich dabei als intelligenter Unreliable Narrator, der uns in einer furiosen und magischen Elegie über Liebe, Anerkennung und Besinnung am Ende mit Staunen zurücklässt. Ein Trickser, der mehrere Ende antäuscht – und doch geht es weiter und weiter. Obwohl am Anfang und Ende des Film ein Meteor mit einem riesigen Flammenschweif auf die Erde zusaust. Noch ein Rätsel.

Der doppelbödige und dezent surreale „Birdman“ wird in einigen Jahren möglicherweise als einer der besten Filme aller Zeiten gehandelt werden. Das bedeutet aber nicht, dass er auch nur einen einzigen Oscar erhält.

(1) Zur Musik in "Birdman"
(2) Interview mit deadline.com

Note: BigDoc = 1, Klawer = 1,5, Melonie = 2


Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) – Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) - USA 2014 - Laufzeit: 119 Minuten - Regie: Alejandro González Iñárritu - Drehbuch: Alejandro González Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris, Jr., Armando Bo - Darsteller: Michael Keaton, Zach Galifianakis, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone, Naomi Watts - Musik: Antonio Sánchez - Kamera: Emmanuel Lubezki - Schnitt: Douglas Crise, Stephen Mirrione - Freigegeben ab 12 Jahren.