Donnerstag, 31. Juli 2014

Bluray-Review: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

82 Jahre alt ist Edgar Reitz und immer noch will er den Deutschen ihre Heimat erklären – und zeigen. Erneut führt er uns in seine Heimat, den Hunsrück, diesmal ins Jahr 1842. Ein ‚Deutschland’ gibt es noch nicht, die Rheinprovinz Hunsrück ist preußisch und die Bevölkerung hat die Nase allemal voll. Elend und Rechtlosigkeit, Armut und Ausbeutung gehen Hand in Hand und treiben viele Hunsrücker fort ins gelobte Land Brasilien, weil es woanders sowieso immer etwas Besseres als den Tod gibt.
 

Jakob Simon ist ein Taugenichts. Und auch er will weg. Statt seinem Vater in der Schmiede zu helfen, liest er alle Bücher, die er zu greifen bekommt. Er versteht und spricht mehrere Sprachen, studiert die Dialekte der Urwald-Indianer und träumt davon, dem Elend und den Hungersnöten in seiner Heimat durch den Aufbruch in eine neue Heimat zu entfliehen. Hunderttausende sind bereits aus ganz Deutschland nach Südamerika aufgebrochen und Jakob versteht es, sich und anderen, den wenigen, die ihm zuhören, die wunderbare Zukunft auf einem neuen Kontinent in schillernden Farben auszumalen. Seine Gedanken hält er nachts in einem Tagebuch fest, tagsüber wird er von seinem Vater schikaniert, der ihm die Bücher wegnehmen will.
So entstehen in „Die andere Heimat“, dem letzten und eigentlich ersten Teil der Hunsrück-Saga von Edgar Reitz, kleine Erzählmomente mit großer Kraft, denn Jakob wird auf beinahe magische Weise geschützt: von der Mutter (wie im ersten Teil der Hunsrück-Saga spielt Marita Breuer wieder großartig die „Mutter“ und ist eine der für Edgar Reitz charakteristischen imposanten Frauenfiguren), seiner Großmutter, seinem „Unkel“. Sie verstecken für ihn die Bücher, räumen ihm Freiheit ein, wo der Zwang zum Überleben eigentlich keinen Platz für romantischen Eskapismus hat.

Das Elend ist in Reitz’ fiktivem Schabbach greifbar. Naturkatastrophen zerstören die Ernte, aber genauso unberechenbar sind die Restriktionen des Gutsherrn, der irgendwann den Dörflern sogar das Sammeln von Brennholz und Bucheneckern untersagt: Die vormals Leibeigenen sind immer noch nicht frei, die Bauernbefreiung schreitet zwar voran, muss aber teuer bezahlt werden. Der Hunger herrscht, die Bauern überleben nur, wenn sie zusätzlich ein Handwerk beherrschen, Tuberkulose und Diphtherie, hohe Kindersterblichkeit und geringe Lebenswartung sind der Normalfall und wenn jemand stirbt, ist die Aufregung meistens gering.
In dieser Welt ist Jakob (Jan Dieter Schneider), der Träumer, ein Nichtsnutz, dessen Wissen keinen ökonomischen Wert besitzt. Nur Jettchen (Antonia Bill), die Tochter eines Edelsteinschleifers, der schon einmal bessere Tage gesehen hat, und ihre beste Freundin Florinchen (Philine Lembeck) hören ihm fasziniert zu. Zwischen Jettchen und Jakob entwickelt sich etwas Sentimentales, aber Jakob ist wie viele Träumer zu schüchtern, um seinen Gefühlen Handfestes folgen zu lassen.
Ganz anders und viel zupackender ist da Gustav (Maximillian Scheidt), Jakobs Bruder, der aus dem preußischen Militärdienst zurückgekehrt ist. Als im November wie immer auf dem „Kerb“ das Ende der Ernte gefeiert wird, verlangt der Grundherr, ein junger Baron, dass die Bauern seinen Wein kaufen anstatt ihren eigenen zu trinken. Der gewalttätige Widerstand der Dörfler hat Konsequenzen: Jakob und sein Freund Franz Olm landen in der Festungshaft, während Gustav fast beiläufig auf dem „Kerb“ Jettchen schwängert und wenig später mit sanftem Druck zur Hochzeit genötigt wird. Als Jakob nach Schabbach zurückkehrt, ist einer seiner Träume bereits zerbrochen.

„Die andere Heimat“ ist kein Prequel, auch wenn die Handlung im Jahre 1842 in Schabbach beginnt und die Familie Simon erneut im Mittelpunkt steht. Von den Häusern, Orten und Plätzen aus „Heimat – Eine deutsche Chronik“ (1984) ist nur die Simon-Schmiede übrig geblieben und die meisten Familien, die im ersten Teil wichtig sein werden, tauchen erst gar nicht auf. Edgar Reitz führt den Zuschauer also eher beiläufig in eine Vorgeschichte seiner alten Filme zurück. Historisch, politisch und ökonomisch geht es um den Vor-März und der Film endet drei Jahre vor der ersten Revolution auf deutschem Boden.
Die Jahrzehnte davor werden von einer gigantischen Auswanderungswelle geprägt. Bereits 1822 hatte die brasilianische Regierung im wirtschaftlich verelendeten Hunsrück auswanderungswillige Kolonisten angeworben. 1846 und 1861 folgten zwei weitere große Auswanderungswellen. Von einer erzählt „Die andere Heimat“ und immer wieder sieht man dann auch am Horizont die Silhouetten der vollgepackten Gespanne der Auswanderer – der Aufbruch in eine bessere Welt. Dass diese auch nicht immer alle Träume erfüllt hat, steht in den Geschichtsbüchern. 1846 wurden die kostenlosen Überfahrten nach Brasilien eingestellt wurden, für viele Menschen aus dem Hunsrück platzte der Traum vom neuen Wohlstand. Sie landeten im Nirgendwo, da sie die preußische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatten. Eine Rückkehr in die Heimat war nicht mehr möglich. Dies wird nicht erzählt, gehört aber auch zur Geschichte.


Wiedergeburt des Poetischen Realismus

So gesehen könnte „Die andere Heimat“ auf den ersten Blick ein naturalistisches Drama über einen der wichtigsten Abschnitte der deutschen Geschichte sein. Reitz und sein kongenialer Kameramann Gernot Roll (bereits in der ersten Hunsrück-Saga und in „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ dabei) bedienen diese Erwartung, spielen dabei aber auf zwei Hochzeiten.
Auf den ersten Blick wird der Alltag in Schabbach mit beinahe dokumentarischer Kamera festgehalten. Das exzellente Production Design mitsamt seinen historischen Settings, Kulissen und Kostümen trägt zu der authentischen Qualität der Milieustudie ebenso bei wie die Organisation der Dreharbeiten, bei denen die wenigen Schauspieler und die vielen Laiendarsteller die damalige Lebensführung fast vollständig assimilierten und an den Drehorten auf private moderne Technik wie das Handy verzichteten.
Dokumentarisch wirkt auch die vermeintlich nicht mehr zeitgemäße Entschleunigung der Bilder. Plansequenzen und minimalistische Montage zeigen in Reitz’ Film provozierend langsam die Arbeit in der Schmiede und auf dem Feld, das Sterben und das festliche Ankleiden der Toten, aber auch die Mahlzeiten, Erntefeste und Hochzeitsfeiern so präzise wie den verhungernden Jungen, der entkräftet an einer Mauer des Dorfes sitzt.
 

Genauso eindringlich zeigt Reitz den Zuschauern aber auch die kleinen Fluchten, etwa wenn sich Jettchen und Florinchen nackt ausziehen, um lustvoll einen blumenbewachsenen Hügel herunterzurollen. Und immer wieder verwandeln dabei Gernot Rolls schwarz-weiße Bilder die Hügel und Felder des Hunsrück in einen magischen Ort, an dem sogar ein für die Ernte verheerender Hagelschauer eine ästhetische Qualität erhält. Wie auch in den anderen Heimat-Sagas wurden Gegenstände nachkololoriert, etwa wenn Jakob seinem Jettchen am Beispiel des Wortes „Grün“ die semantischen Feinheiten der Indianersprache erklärt oder die heimlich aufbewahrte kostbare Goldmünze der Mutter goldfarben aufleuchtet.

Hier verlässt der Film seinen dokumentarischen Gestus nicht, er erweitert ihn und findet zu einem Realismus, in dem die Ästhetik nicht Effekt ist, sondern der Geschichte weiterhilft. Das Dokumentarische und Naturalistische verwandelt sich bei Reitz in jenen poetischen Realismus, den das französische Kino in den 1930er und 1940er Jahren mitsamt seiner Vorlieben für deprimierende Alltags- und Arbeitswelten und deren melancholische Helden entwickelt hat. Wie bei Jean Renoir, René Clair oder Marcel Carné kann man auch in „Die andere Heimat“ die Tradition der expliziten Sozialkritik wiederfinden und die genaue Porträtierung der Milieus, in denen sich Pessimismus und Ausweglosigkeit breit machen. 
Dazu gehören, so auch bei Reitz, der reduzierte Einsatz technischer Mittel, die Arbeit mit Laiendarstellern, aber auch die Poetisierung des Sujets durch filmische Ausdrucksformen. Das Spiel mit der Farbe und Gernot Rolls überwältigend kunstvolle Beherrschung von Licht und Schatten bringen in „Die andere Heimat“ nicht nur die Dinge, sondern auch die Menschen mitten im Elend zum Leuchten. Kleine Momente der Sehnsucht, die nicht das Elend ästhetisieren, sondern als filmische Stil das visualisieren, was Jakob dem Zuschauer im Off erzählt: die Auswanderung soll nicht Abbild der Not, sondern Abbild der Träume sein. Aber eben dies wird sich nicht erfüllen.


Heimat ist Geschichtenerzählen

Hinter all der Einfachheit in „Die andere Heimat“ wird etwas sehr Komplexes sichtbar. Es ist nicht nur das Allgemeine und Exemplarische, was vom filmischen Realismus ohnehin erwartet wird, sondern ebenfalls sichtbar wird das Individuelle und Singuläre, das sich in den Menschen als Reflex auf die äußeren Missstände widerspiegelt. Wenn man genau hinschaut, sind es die kleinen Gesten und szenischen Miniaturen, die sich im Gedächtnis festsetzen, etwa wenn Jettchen lange in einen Spiegel schaut, sich dann selbst zuwinkt und anschließend die Kerze ausbläst. Solche Beobachtungen stellen sich immer häufiger ein, wenn man den Film ein zweites oder drittes Mal sieht. Und wenn man André Bazins Beschreibung der technischen und erzählerischen Mittel von Jean Renoir noch einmal nachliest, dann hat man das Gefühl, dass auch von Edgar Reitz die Rede sein könnte. „Die andere Heimat“ zeigt beeindruckend, dass Realismus und Stil zusammengehören und sich große Erzählkunst häufig ganz unaufdringlich in eine Geschichte einschleicht.
Am Ende verlässt nicht Jakob die Heimat, sondern Gustav und Jettchen werden es tun. Sie haben ihr erstes Kind verloren und nun hält sie nichts mehr in Schabbach. Auch nicht die beschwörenden Worte des Pfarrers, auf die Gustav nur noch mit sarkastischem Agnostizismus reagieren kann. Und hier scheitert auch endgültig der romantische Gegenentwurf, den Jakob im Sinn hatte: Nicht die Träume zwingen zur Flucht, sondern die nackte Not. Gustav hatte keine, wird
aber gehen. Jakob wird im Hunsrück bleiben. Beinahe symptomatisch für den Verlust von Hoffnung ist dann auch das Auseinanderfliegen der Dampfmaschine, die Gustav für die Schmiede und damit auch für sich gebaut hat. Der Überdruck war zu groß. 
Heimat ist Geschichtenerzählen“, bemerkte Reitz in einem Interview und damit meint er auch die vielen kleinen Geschichten, die neben den großen fast beiläufig stattfinden. Sie machen das aus, was Reitz unter Mythos versteht. Am Ende ist in „Die andere Heimat“ auch deshalb nicht die Frage entscheidend, ob Jakob seinen Traum verwirklichen kann oder nicht, sondern was er nach dem Scheitern mit der Hassliebe zu seiner Heimat anfangen soll. Jettchen schenkt ihm die erste und letzte Liebesnacht, eine der schönsten Liebesszenen seit langem in einem deutschen Film, dann ist sie fort und beim Aufbruch ist sie die Einzige, die nicht zurückblicken wird, nachdem die Auswanderer tränenreich verabschiedet worden sind. Jakob wird bleiben und Frolinchen heiraten und bald darauf eine Korrespondenz mit Alexander von Humboldt (Werner Herzog in einem Kurzauftritt) beginnen, die für den berühmten Universalgelehrten so aufschlussreich ist, dass er während einer Reise nach Frankreich einen Abstecher nach Schabbach macht. Jakob, der junge Gelehrte, wird vor Schreck wegrennen, als von Humboldt nach ihm fragt. Er ist „vor seinem Ruhm davongelaufen“, wird ihm der Gelehrte später schreiben.

Und was ist Heimat denn nun eigentlich? Bestimmt nicht das, was an Stammtischen und in Bierzelten heraufbeschworen wird. Heimat ist das, wovon man in schlechten Nächten träumt, dass man es verliert oder verlassen muss. Man weiß eigentlich nicht, was es ist. Das Ferne ist noch keine Heimat, das Bekannte jedoch immer noch. Aber es ist nicht Ideologie oder Sentimentalität, was Heimat in Reitz’ Film ausmacht, sondern das Unscheinbare am Rande, der flüchtige Moment, das, was beinahe unübersetzbar im Hunsrückischen „Gehaischnis“ heißt und in seiner sprachlichen Tiefe auch Geborgenheit meint, aber nicht so einfach zu erklären ist und daher nicht ohne Weiteres auf einen einfachen Begriff heruntergebrochen werden kann. Genauso komplex also wie die Indianersprache, die Jakob so perfekt beherrscht.
Insofern ist Jakobs klarsichtige Beschreibung des „Erschreckens vor dem Gehen“ nicht das Herbeiphantasieren eines mythischen Bandes zwischen den Menschen und der Erde, die sie bewirtschaften – in der deutschen Geschichte immer wieder und zu folgenreich in eine todbringende Mythologie gepresst – sondern das Träumen vom ganz Anderen, von dem Jakob möglicherweise ahnt, dass es Begriff, aber trotz aller Lektüre von den fremden Welten noch ganz ohne Erfahrung und Inhalt ist. Vielleicht gehört es zur Natur von Jakobs Erkenntnis, dass sich sein Traum nicht erfüllen darf, weil er sonst zerstört werden würde.

Heimat ist in Reitz’ „Chronik einer Sehnsucht“ auch ganz unsentimental das, was nach dem erzwungenen Bleiben einfach immer noch da ist, während alle anderen gehen, aber nunmehr auch etwas, das sich in Freiheit verwandeln muss. Und so erfindet Jakob am Ende einen Fliehkraftregler, um den Überdruck in der Dampfmaschine zu regulieren und die Maschine endlich funktionstüchtig zu machen. Gustav hat das nicht geschafft, er hatte nur nachgebaut, aber die Technik nicht verstanden.
„Auf den Wegen der Wissenschaft ist Freiheit“, stellt Jakob dann lapidar im Off fest. Und dann weist er den Vater an: „Ihr baut und ich sage Euch, ob es richtig ist.“
Wissenschaft als Erzeuger von Mehrwert – das kennen wir. Aber sie mit Träumen und Freiheit zu assoziieren, das kann eigentlich nur einer Figur von Edgar Reitz einfallen. Jemandem, der träumt, aber dann doch merkt, dass man seine Träume neu erfinden muss, um etwas verwirklichen. Und so erobert Jakob am Ende nicht etwa die gesellschaftliche Freiheit, soweit ist es noch nicht, sondern seine eigene. Indem er ökonomische Nützlichkeit hervorbringt, erwirtschaftet er den Stolz und die Anerkennung des Vaters und im rückständigen Hunsrück damit die Unabhängigkeit, sich wieder seinen Büchern zuwenden zu können. Mehr geht nicht, aber es ist ein nicht erwarteter Akt der Befreiung.


Postskriptum: Wer soll das sehen? Und wo?

Wie zu erwarten, ist „Die andere Heimat“ mit Preisen überschüttet worden. Zu recht. In der Aufwärmphase gab es den Bayerischen Filmpreis und erwartungsgemäß ist der Film von Edgar Reitz dann auch der große Sieger beim Deutschen Filmpreis 2014 geworden: Bester Spielfilm, Beste Regie, Bestes Drehbuch (für Edgar Reitz und Gert Heidenreich). Über den Vorjahressieger „Oh Boy“ spricht eh keiner mehr und „Die andere Heimat“ reiht sich dort ein, wo mit „Das weiße Band“ (2010), „Das Leben der Anderen“ (2006) und „Die innere Sicherheit“ (2001) bereits andere, nicht weniger intelligente Visionen von Deutschland warten.
Aber nur 119.282 Zuschauer haben „Die andere Heimat“ bis Ende 2013 sehen wollen.

Offen gestanden: eine Überraschung ist dies nicht. Schwarz-weiß; Hunsrück-Dialekt, den man ohne Untertitel so gerade eben versteht; lange, sehr lange Einstellungen und eine Gesamtlänge von vier Stunden manövrieren den Film in die Filmkunst-Ecke, in der eine Reihe pauschalierender Vorurteile warten. Nicht alle sind den Zuschauern anzulasten. „Die andere Heimat“ ist ein wunderbarer Film, einer der schönsten, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Aber er ist auch Bildungskino, das sich nur dem ganz erschließt, der vorher oder nachher das Geschichtsbuch aufschlägt. Vier Stunden Laufzeit scheinen zudem ein Knock-out-Kriterium zu sein und so sind wohl auch jene ferngeblieben, die vor 30 Jahren Reitz’ Heimatgeschichten im Serienformat begeistert gefolgt sind. Da tut sich eine Kluft auf: die Kritiker feiern das Opus hymnisch, der Kinonormalo hört fassungslos zu.

Erinnern wir uns: 1984 waren durchschnittlich 9 Mio. Zuschauer bei der TV-Premiere von „Heimat – Eine deutsche Chronik“ dabei. Regelmäßig. Das entsprach einer Quote von 26%. Jeder zweite Deutsche hatte mindestens eine Episode gesehen.
30 Jahre später scheint dies kaum noch vorstellbar. Irgendwie, so murren einige Kritiker, wurde den Deutschen der Instinkt aus dem Leib geprügelt, gutes episches Erzählen zu mögen. Der Niedergang des deutschen Films gehe Hand in Hand mit einer fatalen Kino-Sozialisation, die sich auch auf den Zweitverwerter, das Fernsehen, auswirke. Die Jüngeren seien längst abgewandert und erwarten ohnehin eine schnelle Montage und raffinierte Plots und keine Filmsprache, die Geduld verlangt, weil man sich in den langen Einstellungen von Reitz wie in einem opulenten Gemälde umschauen soll.
Am Ende steht die Vergreisung des TV-Stammpublikums bei den Öffentlich-Rechtlichen, wo die Entscheider in den Redaktionen womöglich ihr Publikum medial längst als prä-dement einschätzen und ihm nichts mehr zumuten wollen.
Ganz so einfach ist die Sache nicht, allerdings ist die Kritik nicht unberechtigt. Ich stimme einigen Kritikpunkten sogar zu.
Aber man sollte nicht vergessen, dass Geschichten über die Geschichte im deutschen TV immer noch gut funktionieren. Ein Beispiel unter vielen: die Serie „Weißensee“. Und noch etwas: Kino und TV sind zwei paar Schuhe und dazwischen stehen noch DVD und Bluray. Man kann also hoffen, dass diejenigen, denen der Kinobesuch zu mühselig war, nun „Die andere Heimat“ zuhause sehen und das möglicherweise häppchenweise. Als Serie nach eigenem Gutdünken. Für mich steht trotzdem fest, dass „Die andere Heimat“ – und zwar in ihrer ersten fünfeinhalbstündigen Schnittfassung – als Min-Serie ins Fernsehen gehört.

Wirklich spannend ist allerdings, dass sich Edgar Reitz die Rückkehr ins Kino offenbar bewusst ausgesucht hat.
In Kinodimensionen hat er immer gedacht. Vielleicht aber auch, weil man komplexes Erzählen im Serienformat in Deutschland doch nicht mehr verkaufen kann, ohne hohe Hürden zu nehmen. Oder weil man dann von jungen, ahnungslosen Redakteuren gegängelt wird, wie sich Reitz oft genug beklagt hat.
Schade: Als noch keiner den Begriff „Horizontales Erzählen“ kannte, hat Reitz so etwas ganz einfach mal gemacht. Es passte halt. Nun ist Reitz zum Monumentalfilm zurückgekehrt. Aber so ist wenigstens ein Meisterwerk entstanden, das überdauern wird, auch wenn es nur wenige sehen werden oder wollen.


Die Bluray

Die am 10. Juli 2014 erschienene Bluray zeigt den Film in s-w im Format Widescreen (16:9 – 2.40:1). Der Ton ist in DTS-HD 5.1. Optional werden Untertitel für Hörgeschädigte angeboten, was auch zu empfehlen ist. Ich habe nach ca. 30 Minuten die Untertitel zugeschaltet, weil ‚mein’ Hunsrückisch sehr schnell an seine Grenzen stieß und einige Feinheiten ohne Untertitel schnell auf der Strecke blieben.
Das Bild ist exzellent und besitzt Referenzqualität, was auch deshalb erwähnenswert ist, weil der Einsatz externer Lichtquellen bei den Dreharbeiten aus meiner Sicht sehr intensiv gewesen ist, aber Durchzeichnung, Grauwerte und Nuancen in der Postproduktion nicht verlorengegangen sind. Nichts wirkt ‚überstrahlt’. Im Übrigen ist dies Reitz’ erste digitale Produktion gewesen, und dies meint auch den Bildschnitt am Computer, was er nach eigener Aussage als sehr produktiv erfahren hat.

Das Bonusmaterial der Bluray ist nicht nur nachdrücklich zu empfehlen, man sollte es sich ruhig als Erstes anschauen. Aufschlussreich ist das Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Thomas Koebner. Koebner und Reitz führten es in einem Vorführraum und besonders spannend sind Reitz’ Analysen bestimmter Szenen, aber noch mehr die Ausschnitte aus Sequenzen, die bei finalem Cut der ursprünglich fünfeinhalb Stunden langen Urfassung auf der Strecke bleiben mussten. Vieles, so Reitz, habe er daher ins Off verlegt, um Zeit zu sparen.
Weitere Einsichten bietet ein längeres Interview mit Reitz nach der Filmpremiere in München, in dem Reitz trotz unübersehbarer Bescheidenheit immer gut für Aphorismen ist, wie z.B. „Kino ist nicht Zeitvertreib, sondern Zeitgewinn.“
Sollte man sich merken.

Mehr als gut gelungen ist das 38-seitige Booklet, das einige Überraschungen bereithält. Auf den Seiten 3-6 gibt „Hunsrückisch für Anfänger“ und ein „Kleines Dialektwörterbuch“, in dem man erfährt, was „Leckschmier“ ist oder „Krummbeereworschd“. Was dies bedeutet, verrate ich natürlich nicht.
Auf den Seiten 28-37 folgt dann eine wesentlich intensivere „Einführung in die Sprache der Cayucachúa und Xancaráu“ – ein netter Gag, denn erstens hat noch niemand herausgefunden, ob diese südamerikanischen Indianerstämme existieren, und zweitens hat Jan Dieter Schneider, der Darsteller des Jakob, das gesamte Vokabular und die Grammatik erfunden, um sich intensiv auf die Rolle vorzubereiten.

Deutlich informativer im eigentlichen Sinne ist aber die historische Einführung „Der Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts“, die man unbedingt lesen sollte, bevor man den Film sieht.
Den Hauptteil des Booklets bilden Erläuterungen von Regisseur Edgar Reitz über verschiedene Aspekte des Projektes.
Sie sind angenehm sachlich, stecken den enormen Aufwand bei der Recherche und Drehentwicklung ebenso ausführlich ab wie die persönlichen Erfahrungen, die Reitz während der Dreharbeiten gemacht hat. Hervorzuheben ist dabei Reitz’ Deutung der Auswanderungswelle, die nicht nur der extremen Not zuzuschreiben war, sondern auch der Alphabetisierung, die mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen (1815) möglich wurde. So kam auch Reiseliteratur ins Land, die besonders in den armen ländlichen Regionen dafür sorgte, dass die Utopie einer neuen Heimat konkrete Konturen annehmen konnte. Ohne Information keine Vision!


Deutschland/F 2013 · 230 min. · FSK: ab 6 Jahren - Regie: Edgar Reitz - Drehbuch: Edgar Reitz, Gert Heidenreich - Kamera: Gernot Roll - Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese u.v.a.

„Wenn wir von Schönheit sprechen, dann hat das alles zu tun mit der Prägung unserer Sinne. In allem, was wir als schön empfinden, steckt eine Vorgeschichte. Es gibt keine von Geschichte unabhängige Schönheit. Und diesen Geschichten möchte ich auf die Spur kommen. Aber da wo wir Schönheit als übertrieben oder kitschig empfinden, also da, wo sie die Grundlagen verlässt, wo Erfahrung und Wirklichkeit nicht mehr enthalten sind, da wo sie sich ins Illusionäre verwandelt, gehen auch gleich die Geschichten aus“ (Edgar Reitz über seinen Film).

Noten: Klawer, BigDoc = 1