Mittwoch, 25. Januar 2012

J. Edgar


USA 2011 - Regie: Clint Eastwood - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Naomi Watts, Armie Hammer, Josh Lucas, Judi Dench, Damon Herriman, Ken Howard, Jeffrey Donovan, Ed Westwick - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 136 min.

Die 1960er Jahre. In einem Gespräch mit einem Beamten fragt der US-Justizminister Robert F. Kennedy: „Weiß der Direktor über die Sache Bescheid?“ Sein Gesprächspartner blickt vielsagend zur Decke und erwidert: „Ich vermute, jetzt weiß er Bescheid“, worauf Kennedy rief: „Edgar, kannst Du mich hören?“
Edgar – gemeint war John Edgar Hoover, seit 1924 Chef des Bundeskriminalamtes, des so genannten "Federal Bureau of Investigation" (FBI). Und die Vermutung, dass der seit fast vier Jahrzehnten ununterbrochen amtierende FBI-Boss das Büro seines Dienstherrn verwanzt haben könnte, war sicher kein ironischer Scherz.

FBI-Chef Hoover befiehlt zu diesem Zeitpunkt über 16 200 Angestellte -- darunter 7000 gut ausgebildete Sonderagenten. In seinem Washingtoner Hauptquartier verwahrt er Dossiers über Hunderttausende von US-Bürgern. Das Fingerabdruck-Archiv seiner Behörde ist die größte kriminaltechnische Identifizierungs-Kartei der Welt. Und schließlich sind da noch die vertraulichen Akten, in denen Hoover besondere Erkenntnisse verwahrte, am liebsten solche, die aus den verwanzten Schlafzimmern der Mächtigen stammten. Erkenntnisse, die Hoover möglicherweise zum einflussreichsten Strippenzieher der Vereinigten Staaten gemacht haben.

In Clint Eastwoods „J. Edgar J.“ wird Hoover (Leonardo DiCaprio) jedem neu gewählten US-Präsidenten einen Antrittsbesuch abstatten. Und jedes Mal wird er vor dem Betreten des Büros kurz stehenbleiben und einen Blick auf ein Portrait George Washingtons werfen. Dann betritt er den Raum, in seiner Hand eines der berüchtigten Dossiers, deren Inhalt dafür sorgte, dass Hoover acht Präsidenten und 16 Justizminister politisch überleben konnte, bevor den 77-jährigen 1972 ein Herzschlag ereilte.

Großartiger Schauspielerfilm
Wie geht man mit einem Mann um, der vermutlich über jahrzehntelang seine obersten Dienstherren erpresste und nötigte und die politische Kultur des USA nachhaltig beschädigte, während er sein Privatleben hinter der Fassade eines biederen Bürgers verbarg, der höchstens einmal im Jahr Urlaub macht und ansonsten rund um die Uhr arbeitet?
Behält man den Blick für das Faktische oder man setzt auf ein spekulatives Psychodrama. War Edgar J. Hoover ein gefährlicher „Big Brother“, der einen Schnüffelstaat im Visier hatte, oder lenkte er seine Energien in seine Arbeit, um seine heimliche Homosexualität zu kompensieren. Und vor allen Dingen: wen interessiert das?

„J. Edgar“ ist zunächst ein fesselnder Schauspielerfilm. Der auf Zwanghaftes und Morbides fast schon überspezialisierte Leonardo DiCaprio gibt nach einem mitreißendem Portrait des zwangskranken Howard Hughes nun auch eine exzellente Vorstellung vom Innenleben eines nicht weniger getriebenen Mannes, dessen Vita auch eine Herausforderung für die Maskenbildner gewesen sein dürfte.
In der Besetzung der Hauptrolle spiegeln sich die Stärken, aber auch die kritischen Momente in Clint Eastwoods Film, denn DiCaprio bleibt am Ende doch DiCaprio, ein Schauspieler, der es zwar versteht, den inneren Dämonen eines verdrängten Lebens Ausdruck zu verleihen, dem man aber über weite Strecken nicht immer das Brutal-Ruppige des echten Hoover abkaufen mag, der von Zeitgenossen aufgrund seines Äußeren auch Bulldogge genannt wurde. Manchmal hat man in „J. Edgar“ sogar das Gefühl, dass in DiCaprios Acting doch eine Spur zuviel Empathie und Differenzierungsvermögen wirken, um das Exemplarische an Hoovers Paranoia adäquat herauszuarbeiten.
Doch dann folgen Szenen, in denen kleine Gesten und Veränderungen der Mimik präzise herausarbeiten, dass wir einem Mann zuschauen, der ein bis zur Erstarrung durchgeplantes Leben mit genauso starr geplanter Intimität aufladen will, wobei ihm dies in den entscheidenden Moment immer wieder missrät.
Das hätte zumindest eine OSCAR-Nominierung verdient, aber „J. Edgar“ ist von den Juroren komplett ignoriert worden, was vielerlei Schlüsse zulässt.

Eastwood und sein Drehbuchautor Dustin Lance Black („Milk“) haben in „J. Edgar“ eine elegante, aber nicht immer restlos überzeugende Lösung für das Problem gefunden, wie man Privates und Politisches unter einen Hut bekommt. Hoovers Leben wird in zwei Zeitschienen gepackt, die mäandernd ineinander greifen, ohne dabei den narrativen Zusammenhang zu verlieren, und ganz am Ende werden wir sehen, dass aus naiver Faktentreue und vordergründigem Realismus kein gutes Biopic entsteht, weil der Fake als immanenter Bestandteil des Konstruierens und Dekonstruierens immer eine wichtige Rolle spielt. Clint Eastwood und sein Autor haben dieses Problem, das uns bereits in Orson Welles „Citizen Kane“ begegnet ist, jedenfalls adäquat gelöst und aus gutem Grunde mit ihrer Plotstruktur mächtige Löcher in Hoovers Biografie gerissen.

Ohne historische Kenntnisse etwas sperrig
Prolog und Rahmenhandlung spielen in einem Zeitraum, der nach der Kubakrise beginnt, die Ermordung John F. Kennedys und Martin Luther Kings einschließt und mit Hoovers Tod endet: hier sehen wir den alten Hoover, der verschiedenen jungen FBI-Beamten sein ganz persönliche Sicht der geschichtlichen Ereignisse diktiert, eine Autobiographie, die so nie existierte, und wir hören ihn als sein eigener Erzähler aus dem Off.
Die eingeschobenen Flashbacks beziehen sich dagegen auf einen Zeitraum, der 1919 mit dem Bombenattentat auf den Attorney General (was in etwa unserem Generalstaatsanwalt entspricht) Alexander Mitchell Palmer beginnt und mit der Überführung Bruno Richard Hauptmanns, des vermeintlichen Entführers des Lindbergh-Babys, endet. Diesen spektakulären Fall wusste Hoover geschickt zu nutzen, um seiner Behörde endgültig zum Durchbruch zu verhelfen: 1935 wurde das Bureau of Investigation (BOI) in das Federal Bureau of Investigation (FBI) umbenannt, das nunmehr übergreifende Befugnisse besaß.

Ohne historische Kenntnisse erweist sich der Film in den ersten 60 Minuten als durchaus sperrig. „J. Edgar“ findet zunächst kurze, aber prägnante Bilder für öffentliche Hysterie, die als „Red Scare“ bekannt wurde, jene rote Angst, die in der McCarthy-Ära erneut hochschwappte und sich bereits 1917 zum ersten Mal offen zeigte. Nach der russischen Oktoberrevolution wurden linke Kriegsgegner, die gegen den Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg demonstrierten, aber auch amerikanische Kommunisten, Anarchisten und natürlich auch die Gewerkschaften zur Zielscheibe.

Eastwood lässt Hoover in seinen Erinnerungen gleich zu Anfang als einen Mann auftreten, der als patriotischer Mitarbeiter des US-Justizministeriums nicht davor zurückschreckt, die nicht verfassungsgemäße Deportierung einer US-Bürgerin zu betreiben, der bekannten Ikone der amerikanischen Friedensbewegung Emma Goldman. Dieser Coup war tatsächlich keineswegs Hoover allein zuzuschreiben, obwohl er mit diesem einen Anteil an den berüchtigten „Palmer-Raids“ hatte, die zur Deportation von über 10.000 politisch Unerwünschten in die Sowjetunion führte. Die meisten wurden später Opfer der stalinistischen Säuberungsaktionen.
Diese zwar etwas verkürzte, aber im Kern korrekte Wiedergabe der Fakten ist Eastwoods Film hoch anzurechnen, man sollte aber schon etwas über die Hintergründe wissen, um Hoover in der sehr gespaltenen politischen Kultur dieser Jahre richtig zu verorten. Tatsächlich wurden die USA Anfang des vergangenen Jahrhunderts von Terroranschlägen erschüttert, die Linken und Anarchisten angelastet wurden und das Rechtsverständnis der Nation belasteten – gelinde gesagt. Hoover gehörte wohl aus ideologischen Gründen zum rechten Lager. Dies sollte man wissen, um nicht der verkürzten These zu erliegen, dass Triebabfuhr mit politischer Radikalität korreliert wird und private Macken hinreichend die folgende Monstrosität erklären.

Clint Eastwood orientiert sich der Darstellung von Hoovers weiterem Werdegang an bekannten Episoden:
Als Leiter des BOI setzt Hoover eine rigorose Professionalisierung seiner Behörde durch, die sich auf das idealisierte Berufsethos der „G-Men“ konzentrierte und gleichzeitig neuen kriminaltechnischen Methoden zum Durchbruch verhalf. 1925 wurde eine zentral verwaltete Kartei für Fingerabdrücke, ein kriminaltechnisches Labor und eine Aus- und Fortbildungsakademie etabliert. Gleichzeitig sorgte Hoover, dem die positive Darstellung des Gangsters im Kino missfiel, auf geschickte Werbung in eigener Sache. So wurde von Kaugummikarten bis zur TV-Serie „The FBI“ alles mögliche gesponsert, um seine Männer und sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Und dazu gehörten inszenierte Verhaftungen prominenter Mobster, die er selbst vornahm und die zuvor mediengerecht vorbereitet wurden.

Zwanghafte Selbstinszenierung
Die ineinander verschränkten Zeitstränge führen in Eastwoods Film zu einer politisch interessanten dialektischen Spannung zwischen dem 75-jährigen Hoover, der seine Memoiren diktiert, und dem jungen Hoover, der am Anfang spürbar um seine innere und äußere Fassung ringt. Während der alte Hoover im Prolog aus dem Off routiniert über das bedrohte Amerika bramarbasiert, das von Kriminellen und mehr noch von Kommunisten bedroht wird, die sich wie eine Infektion im Körper der Nation breit machen, muss sich der junge Hoover erst noch konstruieren, um sich definieren zu können. Er spricht gestelzt und aufgesetzt, um sich die notwendige Autorität bei seinen zum Teil älteren Mitarbeitern zu verschaffen. Er mäkelt an äußeren Attributen seiner Agenten herum („Keine Gesichtsbehaarung“) und zeigt früh seine Willkür, die in späteren Jahren zur Obsession werden sollte. Und er folgt dem Rat seiner Sekretärin und lässt seinen Sessel auf ein unsichtbares Podest stellen, damit seine Besucher zu ihm aufblicken müssen. Von Anfang an wird klar, dass Eastwoods Hoover seine Karriere als Teil einer Selbstinszenierung begreift, die seine Identität mitsamt ihrer Bruchstellen verklammern soll.

Drei Menschen spielen in dieser verkrampften Selbstinszenierung eine zentrale Rolle: Hoovers Mutter (Judy Dench) als Objekt eines ödipalen Konflikts, sein späterer Stellvertreter und Lebensgefährte Clyde Tolson (Armie Hammer) und seine Sekretärin Helen Grandy (Naomi Watts).
Helen Grandy wird gleich zu Anfang Hoovers holprigen Heiratsantrag ablehnen, aber das möglicherweise noch intimere Angebot, nämlich seine Sekretärin zu werden, begeistert akzeptieren. Leider gerät diese Figur dann weitgehend aus dem Fokus.
Alle drei aber haben etwas gemeinsam: sie sind nicht nur durch ihre erotische Verzahnung mit Hoovers Leben von Bedeutung, sondern sind auch ein Indikator für den gestörten Umgangs Hoovers mit Intimität, deren Störungsanfälligkeit auf fast zwangshafte Weise Begehren und Manipulation fast untrennbar miteinander vermischt. An ihnen wird durchdekliniert, was Hoover umtreibt.

Kein Schwulendrama
Das alles lässt viel Spielraum für Psychologie und möglicherweise auch für die psycho-analytische Revision einer Figur, aus der die filmische Fiktion durchaus ein Monster shakespearschen Ausmaßes hätte machen können.
Eastwood umschifft diese Klippen mit einem fast diskreten und zurückhaltenden Regiestil, der lediglich Hoovers Gesprächen mit seiner Mutter eine dezent angedeutete analytische Qualität gibt. Diese finden häufig im Schlafzimmer statt, wo der junge Hoover vor einem Spiegel steht, in dem er nicht nur sich selbst sieht, sondern auch seine Mutter. Und der Zuschauer sieht beide.
Nicht zu Unrecht gilt der Spiegel im Film als Symbol und Medium der Reflexion, aber auch der narzisstischen Größenfantasie. Bei Eastwood wird er dagegen eher zum Reflex der immer wieder erfahrenen Unzulänglichkeit und des mütterlichen Diktats. Vor dem Spiegel stehend, empfängt der junge Edgar die unmissverständlichen, aber auch ein wenig dunkel bleibenden Zurechtweisungen seiner Mutter, eine Konditionierung hin zur Verdrängung des Unerwünschten, das nie beim Namen genannt wird, sich aber im gequälten Gesicht DiCaprios ausdrückt. Hoovers Mutter fungiert dabei als gelegentlich durchaus charmantes Über-Ich, das ihren Sohn zu Höchstleistungen antreibt und eine eiserne Klammer der Disziplin über ihn verhängt.

Eastwood beschränkt sich dabei auf drei Schlüsselszenen. In der ersten erzählt Hoovers Mutter ihrem Sohn die Geschichte eines homosexuellen jungen Mannes, der Frauenkleider anzog, erwischt wurde und sich kurz danach erschoss - eine „Narzisse“, durchaus ein elegantes Synonym für Narzissmus und Homosexualität, und sie sagt Edgar, dass sie einen Sohn mit so einer Veranlagung nicht dulden würde. Nach dem Tod der Mutter wird sich Edgar deren Kleid anziehen und sich eine Perlenkette umhängen, jene „Cross-Dressing“-Szene, die in den USA ausgiebig diskutiert wurde und die Eastwood angeblich zunächst gar nicht zeigen wollte. So viel Symbolik könnte schief gehen, aber Eastwoods Kunst besteht darin, so etwas weitgehend unaufdringlich ins Bild zu setzen und mit seiner Kadrierung nicht zu viel Nähe zu suchen.

Die Darstellung Clyde Tolsons in „J. Edgar“ ist dagegen weniger komplex. Das überrascht ein wenig. Und was noch wichtiger ist: sie spielt den ersten 60-70 Minuten des Films keine nennenswerte Rolle.
Tatsächlich macht Eastwood kein Geheimnis aus der sexuellen Orientierung der beiden Männer: Hoover sucht Tolson gezielt nach Aktenlage aus, weil dort zu lesen ist, dass Tolson sich nicht für Frauen interessiert.
Die dritte Schlüsselszene ist erste Begegnung der beiden. Hoover sitzt auf seinem erhöhten Podest, aber Tolson bleibt stehen und es ist Hoover, der aufblicken muss. Er sieht sich einem rhetorisch brillanten Upper-Class Anwalt gegenüber und ist entzückt und befangen zugleich. Später bindet er das Objekt der Begierde immer enger an sich, ohne nennenswerten Widerstand zu erfahren. Er macht ihn zu seinem Stellvertreter, er legt zärtlich seine Hand auf die von Tolson, er bucht ein Doppelzimmer für sich uns seinen Auserwählten, aber als er diesem gesteht, dass er nach einer „Mrs. Hoover“ suche (eine Anspielung auf die Hoover nachgesagte Affäre mit der Schauspielerin Dorothy Lamour), macht ihm Tolson eine Szene, nachdem er Hoover wortwörtlich gestanden hat, dass er ihn liebt. In der anschließenden Schlägerei der beiden küsst Tolson Hoover intensiv auf den Mund, dieser fährt ihn an: „Mach dies nie wieder!“, fleht Tolson aber an zu bleiben, nachdem dieser sich von ihm trennen will. Mit anderen Worten: Eastwood zeigt uns Hoover recht eindeutig als einen Mann, der einen ebenso eindeutig homosexuellen Mann an sich bindet, ohne aber den Mut zu finden, seine Gefühle auszuleben und zu dessen Inszenierung es gehört, eine Intimität so kontrolliert zuzulassen, dass sie am Ende keine mehr ist.

Das Leben als Fake und der Mut zur Lücke
Dass dies in „J. Edgar“ nicht zu einem kolportagehaften Tuntendrama mutiert, liegt daran, dass es Eastwood gelingt, das Homoerotische in Hoovers fiktiven Psychogramm immer als Reflex auf dessen Selbstinszenierung zu zeigen. Innerhalb dieser Mythologisierung zu Lebzeiten folgt den vermuteten Verdrängungen Hoovers immer auch ein soziales und politisches Echo. Eastwood zeigt uns einen Mann, dessen Bespitzelung Orwellsche Dimensionen erreicht und dessen Macht darauf basierte, auf Tonbändern den Gesprächen von Menschen zu lauschen, die gerade Sex haben. Eine rein psychoanalytische Ausdeutung des Ganzen als pathologische Obsession hätte uns eine Portion Waschküchenpsychologie präsentiert, die aber kaum ernst zu nehmen wäre. So wird das Innenleben Hoovers geschickt mit seinen erotischen Avancen, seinen politischen Ängsten und Kontrollmanien verzahnt, ohne dass dies einer billigen Kausalkette zugeschrieben wird.

Die eigentliche Pointe serviert uns Eastwood am Ende , wenn „Alter Ego“ Clyde Tolson, gerade von einem schweren Schlaganfall halbwegs genesen, seinem Freund die Rechnung präsentiert: er habe mit seiner Autobiographie nicht nur maßlos übertrieben, sondern schlichtweg gelogen. Die von Hoover inszenierte und mediengerechte Festnahme eines Gangsters – ein Fehlschlag. Seine Bedeutung im Lindbergh-Fall – kriminaltechnisch ein Erfolg, in der Selbstdarstellung eine grelle Überzeichnung. Und so weiter.
Blitzschnell zeigt Eastwood in kurzen Flashback, dass alles, was wir über den jungen Hoover erfahren haben, lediglich eine Fiktion in der Fiktion gewesen ist. Wir haben nur die „Wahrheit“ gesehen, die uns der Off-Erzähler Hoover präsentieren wollte.
Nämlich die Inszenierung des Mythos.

“If the legend becomes fact, print the legend!” heißt es in John Fords „The Man Who Shot Liberty Valance“.
Nur besteht in Fords Klassiker der fromme Betrug darin, dass sich die öffentliche Wahrnehmung bei der Umwandlung der Fakten in den Mythos für eine historische Interpretation entscheidet, die ihr als die moralisch triftigere erscheint. 
In „J. Edgar“ ist es das Subjekt des Mythos selbst, dass diese Verwandlung betreibt.
In dieser Sollbruchstelle der filmischen Narration legt uns Eastwood durchaus auch nahe, wie wenig den Bildern zu trauen ist. Aber dies ist ja nichts Neues und wesentlich spannender erscheint mir die Erkenntnis, dass Eastwood in seinem Biopic die Essenz eines Lebensprinzips als kritisches Stilmittel adaptiert hat, um die Verzahnung des Privaten mit dem Öffentlichen zu durchleuchten: ein Leben, das nur als eiserne Inszenierung durchzuhalten ist, kann dem narzisstischen Subjekt nur gelingen, wenn es am Ende die Fakten nicht veredelt, sondern verbiegt. Damit ist das Scheitern aber bereits beschlossene Sache.

Fast beschleicht einen das Gefühl, dass Eastwood selbst ein wenig an dieser Schraube gedreht hat, denn sein Film hat eine fast altmodische Art, anständig mit seiner Hauptfigur umzugehen. Den Niedergang seines negativen Helden scheint uns Eastwood nämlich ersparen zu wollen. Zwar wurde Hoover noch Mitte der 1950er von den Republikanern ernsthaft als Präsidentschaftskandidat in Erwägung gezogen. In den folgenden 15 Jahren vollzog das FBI dann aber einen aufsehenerregenden Abstieg, der auf seinem Tiefpunkt die Behörde sogar die Konkurrenz mit ländlichen Polizeistationen fürchten ließ. Wenige Jahre vor seinem Tod wurde Hoover, der nach Ansicht einiger Historiker durchaus eine Blaupause für einen amerikanischen Faschismus geliefert hatte, dann von dem Kongreßabgeordneten Hale Boggs mit den Worten angegriffen, er bediene sich „der Methoden der Sowjetunion und der Gestapos Hitlers.“
Das sehen wir in „Edgar J.“ nicht.
Auch nichts über die Entwicklung des FBI zu einem innerstaatlichen Geheimdienst, nichts über die Hoovers fast schon manische Fixierung auf die Verfolgung von Kommunisten und Extremisten und genauso wenig über die Vorwürfe, Hoover habe gezielt die Verfolgung des organisierten Verbrechens sabotiert, weil er mit der Mafia einen Deal abgeschlossen wurde. Und noch weniger erfahren wir vom psychischen Abstieg eines Mannes, der lange vor seinem Tod das FBI so abgewirtschaftet hatte, dass man ihn nicht mehr ernst nehmen konnte, aber weiterhin fürchtete, und der einen führenden Mitarbeiter in die Provinz versetzte, nur weil dieser ihm vor Antritt einer Dienstreise „viel Spaß“ gewünscht hatte. Natürlich hat jemand wie Hoover keinen Spaß während der Dienstzeit.

Und doch ist es konsequent, denn das von Hoover Memorierte muss dort enden, wo der Höhepunkt erreicht ist: in der Mittdreißigern - Hoover hat das FBI und er hat Tolson! Es ist der Moment der größtmöglichen Kontrolle. Es ist der Höhepunkt der Inszenierung, in der schon das Moment des Niedergangs angelegt ist. Und das erklärt die gewaltige Lücke im Plot.
Und ganz am Ende, wenn Hoover schon längst tot ist und Nixons Truppen vergeblich nach den in einem verschlüsselten Karteisystem verborgenen Geheimdossiers suchen, deren Ort nur noch Helen Gandy kennt, hören wir seine Stimme aus dem Off. Es sind die gleichen Warnungen wie zu Anfang, nur haben sie einen Klang, der plötzlich eine Nähe zu 9/11 und den Bush-Jahren aufscheinen lässt, so als würde der Tote dafür werben, dass man heute einen wie ihn noch brauchen kann. Aber das ist wieder nur eine Illusion.
Die Geschichte hat Hoover auf ganz andere Weise überholt, nur waren seine Nachfolger deutlich plumper.
Aber wesentlich gefährlicher.

Noten: BigDoc = 1

Anmerkung: Für diese Kritik habe ich in diversen Archiven recherchiert, weil ich bei Biopics immer wissen möchte, wo das Faktische aufhört und die Fiktion beginnt. Ich war verblüfft, dass in über den über 40 Jahre alten Dokumenten ziemlich exakt die Szenen und Episoden beschrieben wurden, die auch im Film zu sehen sind. Erwahnenswert ist, dass der alte Hoover ein ziemlich mieses Ekelpaket war. Einen anekdotischen Reiz besitzt auch folgende Episode: Hoover beschwerte sich eines Tages darüber, dass sein Fernsehgerät nicht funktioniere. Da er selten weitere Hinweise gab, sondern es seinen Mitarbeitern überließ herauszufinden, was er meinte, stürzte er alle in Panik. Irgendwann traute sich jemand nachzufragen. Und des Rätsels Lösung? Hoover wollte nach dem Drücken des Einschaltknopfes sofort (!) ein Bild sehen (Achtung: Röhrenfernseher!). Irgendwie haben die Jungs das dann für ihn hinbekommen.