Montag, 10. Oktober 2011

Hævnen - In a better world

Dänemark / Schweden 2010 - Originaltitel: Hævnen - Regie: Susanne Bier - Darsteller: Mickael Persbrandt, Trine Dyrholm, Ulrich Thomsen, Markus Rygaard, William Jøhnk Nielsen, Bodil Jørgensen - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 113 min.

Es gibt Filme mit einem ernsthaften moralischen Anliegen, die in etwa so viel Spannung erzeugen wie jene, die man empfindet, wenn man hingebungsvoll dem Gras beim Wachsen zuschaut. Dies beweist zwar nicht, dass Menschen und besonders Kinogänger allen Belehrungen zum Trotz keinen Deut auf moralphilosophische Diskurse geben, aber es lässt vermuten, dass man sie dabei wenigstens gut unterhalten sollte. Kant hat womöglich unrecht gehabt: es geht eben nicht nur um die formalen Bedingungen möglicher und auch richtiger Erkenntnis, sondern um die deutlich schwerer zu verstehende moralische Intuition und unser emotional fundiertes Gerechtigkeitsempfinden. Beides, sowohl die Intuition als die Emotion können uns aber in die Irre führen.
In „Rache“ ("Hævnen" lautet die Übersetzung des dänischen Originaltitels; der deutsche Verleihtitel ist geradezu irreführend) geht es Gewalt und die Frage, wann man die Regeln einer humanen zivilen Gesellschaft aufgeben kann und sogar muss. Die Gewalt begegnet uns in Susanne Biers Film in Form von Mobbing an einer Schule und Rohheit im täglichen Miteinander, aber auch als viehische Brutalität in einer Gesellschaft ohne zivile Rechtsordnung. Die eine Geschichte spielt in Dänemark, die andere in einem afrikanischen Flüchtlingscamp. Und beide Geschichten werden die Hauptfiguren an die Grenze ihres sittlichen Urteilsvermögens führen.

Die Grenzen des Pazifismus
Susanne Bier (Things We Lost in the Fire, 2007) holt den Zuschauer zunächst emotional ab – und zwar beim wütenden Protest. Oder zumindest bei dem unbequemen Gefühl, dass alles irgendwie falsch läuft. Die Empörung über die Offensichtlichkeit der Ungerechtigkeit, die den Menschen in ihrem Film zuteil wird, ist, obwohl dies auf den ersten Blick etwas paradox wirkt, durchaus unterhaltsam. Denn der Film bedrängt und stellt eigentlich pausenlos die Frage „Was würde ich tun?“ Erst recht, wenn man sich bereits kurz nach der filmischen Exposition fragt, wie zum Teufel die Figuren aus der zum Teil fremdverschuldeten, aber auch selbst zu verantwortenden Bredouille kommen.
Der schwedische Arzt Anton (exzellent und gegen seinen Rollentyp anspielend: Mikael Persbrandt) arbeitet in einem Flüchtlingscamp, dessen Bewohner nicht nur kriegerische Gewalt erfahren haben, sondern auch den abgrundtief bösen Terror eines Warlords, der Schwangere bei lebendigem Leib aufschlitzt, um nachzuschauen, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen ist. Anton, der regelmäßig seine Familie in Dänemark besucht, bleibt trotz dieses Elends völlig fokussiert auf seine Arbeit: eine pragmatische und auch ambivalente Haltung, die den Verhältnissen in einem Land geschuldet ist, in dem es keine Organe zu geben scheint, die das staatliche Gewaltmonopol zum Schutz der Rechtsordnung einsetzen.

Sein Sohn Elias (Markus Rygaard) wird derweil in der Schule als „Rattenfresse“ drangsaliert und gemobbt. Erst als Christian (William Jøhnk Nielsen), der mit seinem Vater lange in London gelebt hat und nun nach Dänemark zurückgekehrt ist, sich mit ihm anfreundet und den an sich physisch überlegenen Anführer der Mobbingbande zusammenschlägt und mit einem Messer bedroht, ändern sich die Verhältnisse: Elias hat von nun an seine Ruhe. Er steht unter Personenschutz und hat dazu auch noch einen Freund gewonnen. Gegengewalt scheint also funktionieren. Aber darf man das?

Bier skizziert beide Handlungsstränge zügig und kommt zumindest bei der schulischen Gewalt schnell auf den Punkt. Die Reaktionen der Erwachsenen kommen allerdings nicht besonders gut dabei weg: hatten schon die Lehrer Schwierigkeiten damit, die Nöte Elias‘ zu würdigen, so reagieren die Erwachsenen auf die von Christian ausgeübter Gegengewalt mit Panik und Entsetzen, ohne dass man das Gefühl hat, dass sie sich in der vorpubertären Kosmos der Kinder mit all seinen Widerlichkeiten überhaupt noch hineinversetzen können. Fast reflexhaft rufen sie den gewaltfreien und ausgleichenden Ethos des Miteinanderredens auf, eher eine Form der Hilflosigkeit, die dem Opfer in Biers Geschichte kaum hilft. Als Christian, der nach dem frühen Krebstod seiner Mutter ein zerrüttetes Verhältnis mit seinem Vater verarbeiten muss, diesem erklärt, dass man sich „gleich beim ersten Mal wehren müsse, damit es aufhört“, erfährt er blankes Unverständnis. Es scheint, als hätte keine der Erwachsenen jemals Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ in die Hand genommen. Die Erwachsenen, so scheint Bier zeigen zu wollen, sind kulturell so normiert, dass sie das Übel auch dann nicht erkennen, wenn es direkt vor ihnen steht.

In einer zentralen Szene von „Hævnen" lässt sich Anton (Mikael Persbrandt) in Gegenwart seines Sohnes Elias und dessen Freund Christian von einem jähzornigen Automechaniker mehrmals ins Gesicht schlagen. Anton hat diese Szene sorgfältig arrangiert, um den Kindern zu zeigen, dass man auf Gewalt nicht mit Gewalt reagiert und moralischer Sieger bleibt, wenn nach einem Schlag die andere Wange hinhält. Anton bezieht sich dabei keineswegs auf die neutestamentarische Aufforderung zur Gewaltfreiheit, sondern eher auf einen zivilcouragierten Pazifismus, aber auch so haben die beiden Zwölfjährigen große Zweifel daran, ob Antons moralische Lektion stimmt. Immerhin, so Christian, dürfte der Schläger nicht das Gefühl gehabt haben, der Verlierer zu sein. Und so kommt für Christian nur noch die Rache an dem ruppigen und zudem ausländerfeindlichen Brutalo infrage.
Dass nach dieser Entscheidung das Verhängnis seinen Lauf nehmen wird, ist absehbar. Gleichzeitig konfrontiert uns Susanne Bier mit einem moralischen Dilemma, das offenbar unabhängig von der jeweiligen Verfasstheit der Gesellschaft existiert, aber in einer zivilen Ordnung noch stärker auf den Nägeln brennt: Ist Gewalt als Reaktion auf Gewalt eine mögliche Lösung oder ist sie per se moralisch zu verwerfen?


Wie ein Lehrstück
Eine mögliche Antwort auf diese Frage wird Anton ausgerechnet in Afrika finden. Als der schwer verletzte Warlord bei ihm auftaucht und um Behandlung nachsucht, schlägt ihm das Anton aufgrund seines medizinischen Ethos nicht aus und erledigt mehr als widerwillig seinen Job. Während sein Sohn und dessen Freund derweil in Dänemark an einer Autobombe basteln, um den Van des Schlägers in die Luft zu jagen, erlebt Anton sein moralisches Waterloo, als der fast genesene Warlord menschenverachtend auf eines der geschändeten Mädchen reagiert: Anton schleift ihn aus dem Lager und schreitet nicht ein, als die aufgebrachte Menge den Bösewicht lyncht. Susanne Bier belässt es dabei, dies als offene Situation zu zeigen, ohne einen tieferen Blick in Antons Innenleben zu werfen.
„Hævnen" wirkt mit seinen erzählerischen Arrangements streckenweise wie ein Lehrstück, das seine Geschichte als Reihe moralischer Fallstricke arrangiert, um zu demonstrieren, dass man möglicherweise am Ende keine befriedigende Antwort auf die gestellten Fragen findet. Dass dies nicht gekünstelt wirkt, liegt in erste Linie an Biers geschickter und präziser Handlungs- und Figurenentwicklung, aber auch an den restlos überzeugenden Darstellern, allen voran Mikael Persbrandt als pazifistischer Arzt und an dem jungen, sehr begabten William Jøhnk Nielsen, der den nach dem Tod seiner Mutter sehr verletzlichen Christian als harten und scharf nachdenkenden Jungen spielt, der haarscharf am menschenverachtenden Zynismus entlang schrammt.

Anthropologische Skepsis
Auch wenn Bier bekundet hat, dass sie nicht Partei ergreifen wolle, so zeigt „In einer besseren Welt“, dass der Spruch Matthäus‘ „Wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin“ sowohl in einer zivil codierten als auch in einer archaischen Gesellschaft seine Grenzen rasch erreichen kann, während Moses „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zwar keine zivilisatorische Perspektive besitzt, aber durchaus alltagstauglich sein kann. Das allerdings dürfte für viele Kinogänger nicht leicht zu verdauen sein.
Allerdings ist das Drehbuch von Anders Thomas Jensen (u.a. "Adams Äpfel" (2005), "Nach der Hochzeit" (2006), zusammen mit Susanne Bier, die Regie führte) ausreichend glaubwürdig, um den Zuschauer auch diese Kröte schlucken zu lassen.
 

Anders als in dem sehr speziell angelegten pädagogischen Vorzeigefilm "Ben X" (Nic Balthazar, Belgien-Niederlande 2007) und dem fast schon nihilistisch-unversöhnlichen "Klass" (Ilmar Raag, Estland 2007), der mit einem Massaker und anschließendem Suizid endet, öffnet „Hævnen" den Blick für eine Lösung, auch wenn der Riss zwischen Erwachsenen und Kindern unüberbrückbar scheint. So kann die Verzahnung der emotionalen Konflikte mit den Beziehungen der Söhne zu ihren Vätern kaum gegensätzlicher sein: während Elias eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Vater hat, wirft Christian seinem Vater vor, den Tod der Mutter gewollt zu haben. Interessant ist, dass beide Väter ihren Söhnen nicht helfen können und Elias' Mutter mit einer schrecklichen Lüge Christian fast in den Selbstmord treiben wird. Hier zeigen Bier und Jensen auf subtile Weise einen kulturellen Riss Im Gefüge: das schrecklich Andere, dem Anton in Gestalt des Warlords begegnet, stammt aus einem fremden Kosmos, der sich einem Verständnis so restlos versperrt wie die Regeln der Gewalt in der hermetischen Binnenwelt der Schüler, der die Pädagogen und Erwachsenen verständnislos gegenüberstehen. Dieser nicht leicht zu entdeckende Andeutung einer anthropologischen Skepsis kann man mit finsterster Schwärze begegnen oder man löst die Geschichte etwas humaner auf. Dass Bier und Jensen sich in „Hævnen" für Letzteres entschieden haben, gehört zur Freiheit der künstlerischen Perspektive.

Dass Susanne Bier und Anders Thomas Jensen deshalb in einem versöhnenden Ende zeigen, dass die labilen Familien sich selbst heilen und ihre unverstandenen Kinder ehrlich wahrnehmen können, haben einige Kritiker „Hævnen" vorgeworfen. Natürlich erinnert das ein wenig an Spielberg. Susanne Bier verzichtet allerdings auf dessen nicht selten melodramatisches Pathos und erzielt so von der ersten bis zur letzten Filmminute eine Glaubwürdigkeit, die man im Kino nicht häufig antrifft.

Der Film erhielt den Oscar als „Bester fremdsprachiger Film“ bei der Oscarverleihung 2011 und den Golden Globe als „Bester fremdsprachiger Film“ bei der Golden-Globe-Verleihung 2011. Im Filmclub setzte er sich mit überragenden Noten in der Jahreswertung auf Platz 1.

Sehr gut gefallen hat uns allen der ausgezeichnete Soundtrack von Johan Söderqvis, der schon mehrfach mit Susanne Bier zusammengearbeitet hat. Auch Morten Søborgs Kameraarbeit verdient ein ausdrückliches Lob. Überhaupt hat Susanne Bier für „Hævnen" ein exzellentes Team zusammengestellt, das nachdrücklich neugierig auf ihre älteren Arbeiten macht.

Einen kritischen Beitrag zum Thema 'Moral im Kino' kann man in Michael Haberlanders Kurz-Essay "Biutiful in einer besseren Welt" nachlesen: http://www.artechock.de/film/text/artikel/2011/03_24_biutif.html.
Lesenswert ist Georg Seeßlens distanzierte Besprechung (besonders in Hinblick auf die Auflösung der Geschichte) "Blick in den Himmel": http://www.zeit.de/2011/12/Kino-Bessere-Welt.

Noten: BigDoc, Klawer, Melonie = 1, Mr. Mendez =2